Anna Wintour ist mehr als nur eine Redakteurin – sie ist eine kulturelle Institution. Nun tritt sie in die zweite Reihe. Seit über drei Jahrzehnten thront sie mit ikonischem Pagenschnitt und Sonnenbrille über der Modewelt, eine Autorität in einem Business der flüchtigen Trends. Dabei begann ihre Karriere alles andere als vorhersehbar: Als Tochter des einflussreichen Evening Standard-Herausgebers Charles Wintour rebellierte die junge Anna bereits in der Londoner Schulzeit gegen Kleiderordnungen, kürzte ihre Röcke und adoptierte mit 14 jenen Bob, der sie unverwechselbar machen sollte. Mit 16 verließ sie die Schule ganz, überzeugt davon, eines Tages die Vogue zu leiten – eine Voraussage, die sich als prophetisch erweisen sollte.
Nach Stationen in Londoner Boutiquen und Magazinen zog sie 1975 nach New York, wo sie zunächst bei Harper’s Bazaar scheiterte – ihre kreativen Ideen waren ihrer Zeit zu voraus. Doch Wintour lernte nie schneller als durch Rückschläge. Über Umwege kehrte sie nach London zurück, übernahm 1985 die britische Vogue und erwarb sich mit ihrem radikalen Redesign und kontrollierenden Führungsstil den Spitznamen »Nuclear Wintour«. 1988 dann die Berufung zur Chefredakteurin der amerikanischen Vogue – der Beginn einer Ära.
Mit Visionen an die Spitze
Ihre Vision war so simpel wie revolutionär: »I want Vogue to be pacy, sharp and sexy«, wird sie von »newsweek« zitiert. Sie ersetzte klassische Model-Cover durch Prominente, mischte High Fashion mit Jeans und zeigte damit ein Gespür für den Zeitgeist, das ihresgleichen suchte. Unter ihrer Führung wuchs die September-Ausgabe 2004 auf rekordträchtige 832 Seiten an, sie initiierte Teen Vogue und Men’s Vogue und transformierte die Met Gala von einem elitären Fundraiser zum spektakulärsten Mode-Event der Welt. Ihr Einfluss formte nicht nur Magazine, sondern ganze Karrieren – Designer wie John Galliano oder Alexander Wang verdanken ihren Aufstieg ihrer Förderung.
Doch hinter der öffentlichen Fassade der eiskalten Chefin, die durch »Der Teufel trägt Prada« zur Popkultur-Figur wurde, verbirgt sich ein komplexerer Mensch: eine Großmutter, die Windeln wechselt, eine Hundeliebhaberin, eine disziplinierte Frühaufsteherin, die um 5.30 Uhr auf dem Tennisplatz steht, wie CNN berichtet. Sie ist eine Machtpolitikerin, die Fundraising für demokratische Präsidentschaftskandidaten organisierte, und eine Geschäftsfrau, deren Immobilienportfolio und geschätztes Vermögen von 50 Millionen US-Dollar von einem scharfen ökonomischen Instinkt zeugen.
Auch nach ihrem Rücktritt als Chefredakteurin der US-Vogue bleibt sie laut »newsweek« als Global Chief Content Officer von Condé Nast und Global Editorial Director von Vogue an der Macht. Ihr Vermächtnis ist das einer Frau, die Mode demokratisierte, die Karrieren förderte – und brach – und sich selbst zur unumstößlichen Ikone stilisierte.
MK
Bild: IMAGO / ZUMA Press Wire