Niko Neithardt

Bildungssystem: Wann kommt die digitale Revolution?

Jahrzehntelang zählte Karl Lagerfeld zu den bekanntesten Gesichtern Deutschlands. Kaum eine internationale Modenschau schien ohne ihn auszukommen; allein durch sein ikonisches Auftreten konnte er sich der medialen Aufmerksamkeit jederzeit gewiss sein. Auch seine legendären Zitate bleiben bis heute unvergessen. »Ich habe ja im Grunde nie etwas gelernt. Ich habe nicht einmal Abitur gemacht und nix«, lautet eines davon.

Lohnt sich das Lernen eigentlich noch – und welche Rolle spielt die Schule dabei? Mit diesen Fragen setzt sich auch Bob Blume regelmäßig auf Social Media auseinander. In kürzester Zeit ist er so vom Lehrer zu einem der bekanntesten Bildungsinfluencer Deutschlands avanciert. Auch mit uns hat sich der als »Netzlehrer« bekannte Experte zum Interview getroffen. Hier erläutert er den Zusammenhang von schulischem und beruflichen Erfolg – und erklärt, warum eine Revolution des Bildungssystems derzeit unausweichlich scheint.

Herr Blume, Seneca hat einmal behauptet: »Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.« Stimmt der Satz für das deutsche Schulsystem eigentlich noch – oder hat er je gestimmt?

Ich würde sagen: Dieser Satz stimmt jetzt gerade nicht mehr. Das liegt daran, dass sich die Welt in einer Weise verändert hat, die ganz andere Kompetenzen von den jungen Leuten einfordert, sich aber gleichzeitig die Schule noch nicht darauf eingestellt hat.

Vor 50, 60 Jahren war nunmal das einzige Medium im Raum der Lehrer. Bildung soll aber dafür sorgen, dass sich junge Menschen in ihrem beruflichen Werdegang weiterentwickeln können. Das macht Schule heutzutage noch viel zu wenig!

Inwiefern braucht es eine fundierte Schulbildung, um erfolgreich zu sein? Viele Prominente haben ihren akademischen Werdegang ja bereits vor dem Abitur abgebrochen.

Es braucht nicht zwangsläufig einen akademischen Abschluss für den Erfolg! Erfolg ist für mich in erster Linie als eine tiefe Zufriedenheit mit der Tätigkeit, der man nachgeht, definiert. Menschen, die etwas gefunden haben, in dem sie aufgehen, werden mehr oder weniger zwangsläufig erfolgreich darin.Dieser Erfolg kann sich auch an externen Dingen – also zum Beispiel am Vermögen oder in der Prominenz zeigen. Aber das Wichtige ist die persönliche Erfüllung. Genau das ist für mich das Zentrale: Schule muss Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geben, ihre Schwerpunkte zu finden. Es geht ganz klar darum, schon am Anfang des Studiums oder der Ausbildung ein Bild davon zu haben, wer man ist und wo man hinmöchte. Denn die Menschen, die das wissen, sind die Menschen, die erfolgreich werden!

Die Aufgabe der Schule sehen Sie also auch darin, Talente zu entdecken und Leidenschaften zu wecken. Wie kann man sich das denn konkret vorstellen?

Ein ganz wichtiger Punkt, den ich auch in meinem TEDx-Talk behandelt habe, ist zunächst, dem »Warum« eine Bedeutung zukommen zu lassen. Man muss als Schülerin oder Schüler wissen, warum eigentlich etwas so gemacht wird, wie es gemacht wird.

Zudem hat Lernen immer mit Aktivität zu tun, manchmal natürlich nur kognitiv, aber oftmals ist es eben auch entscheidend, dass man selbst kreativ wird. Der dritte Punkt ist die Motivation. Das ist die Krux an Standards! Aus meiner Sicht müsste es vielmehr die Möglichkeit geben, die jungen Leuten eben in ihren Schwerpunkten weiter zu fördern und hier Fähigkeiten zu vertiefen. Ich erlebe es zum Beispiel in der Theater AG. Schüler, die dorthin kommen, bauen plötzlich Selbstbewusstsein auf, können viel besser vor anderen sprechen und haben unheimlich viel Lust, in der AG eine Rolle zu übernehmen. Die berichten mir selbst davon, dass sie plötzlich in anderen Fächern auch mehr Lust haben. Die Investition in flexiblere Strukturen zahlt sich also in den Dingen aus, die man machen muss – denn man muss ja Grundkompetenzen wie Lesen und Schreiben lernen! Lernen funktioniert also vor allen Dingen dann, wenn man auch fürs Lernen entfacht wird. Das Beste, was ich machen kann, ist es, die Schüler zum Leuchten zu bringen. Und dafür braucht es Beziehung.

In Ihrem Buch gehen Sie sehr genau darauf ein, wie Schüler ihre Kompetenzen ausbauen können. Welche Kompetenzen brauchen denn die Lehrer dafür und wo erhalten sie diese?

Der Witz ist, dass es für Lehrkräfte nicht zwangsläufig verpflichtend ist, Menschen gut zu finden oder mit Menschen arbeiten zu wollen. Das ist aber das absolute Fundament!

Die zweite Kompetenz, die es braucht, ist die künstliche Intelligenz. Das ist ein riesiges Thema. Ich habe erst gedacht, sowohl die Schulen als auch die Behörden haben die Relevanz und die gravierenden Veränderungsprozesse verstanden. Diese Themen waren aber nur drei, vier Monate lang ein Gesprächsthema; mittlerweile ist das eher so ein Schulterzucken – und das können wir uns nicht leisten!

Das heißt, in jedem Teil der Lehramtsausbildung muss dieses Thema an die erste Stelle gesetzt werden. Das Wichtige ist ja, so sehr im Thema zu sein, dass man weiß, was davon verwendet werden kann. Oft lässt sich nämlich nicht mit den Ergebnissen arbeiten, weil sie zum Beispiel Bullshit sind, weil sie oberflächlich sind und so weiter. Lehrkräfte brauchen also auch eine Fachlichkeit, um zu beurteilen, was bei ChatGPT und Co. rauskommt. Das ist eine große Herausforderung, aber das muss eben auch in der Verwaltung ankommen, damit die Lehrkräfte nicht auf eine Art und Weise unterrichten, wie sie es vielleicht in den letzten 20 Jahren getan haben. Denn so eine Art, zu unterrichten ist bald nicht mehr ohne weiteres möglich!

Braucht es für den Lehrerberuf in der heutigen Zeit eine digitale Affinität? Ich kann mir vorstellen, dass der Inhalt einer Fortbildung zum Thema Chat-GPT schnell wieder überholt ist.

Die Widerstände gegen das Digitale erlebe ich von Seiten der Lehrkräfte auf dem Gymnasium viel stärker als in den Berufs- oder Realschulen. Denn diese Schulen orientieren sich grundsätzlich stärker an einer beruflichen Laufbahn. Die können es sich gar nicht erlauben, das Digitale abzulehnen. Natürlich darf man da nicht alle Lehrkräfte über einen Kamm scheren – auch nicht alle Gymnasiallehrkräfte. Aber es stimmt: Digitale Affinität ist wichtig. Wenn man nicht digital affin ist, kann man es sich allerdings auch nicht leisten, sich nicht damit auseinanderzusetzen. Sich nicht mit dem Digitalen auseinanderzusetzen, ist sogar grob fahrlässig! Und zwar nicht nur in Bezug auf methodisches Arbeiten, also in Bezug darauf, wie eigentlich Bloggen, Social Media und Marketing eigentlich funktionieren, sondern auch, was den Punkt Medienkompetenz angeht. Der wird ja immer größer und größer. Jeder Lehrer sollte eine Woche lang auf TikTok gehen, sich das mal angucken und selbst merken, wie dieser Sog ausgeübt wird – zum Beispiel, weil er Angler ist und er plötzlich bemerkt, dass da ganz viele Angelvideos kommen. Es ist ja völlig individuell aber genau das ist es ja, die Stärke dieser Algorithmen zum Beispiel kennenzulernen. Wenn jemand also sagt: »Mit dem Digitalen habe ich gar nichts zu tun«, sollte er sich nochmal überlegen, ob der Lehrerberuf das Richtige für ihn ist.

Insbesondere die Künstliche Intelligenz polarisiert. Angeblich verleitet sie die Schüler dazu, die Hausaufgaben einfach nur von ChatGPT abzuschreiben. Welche Argumente werden im Lehrerzimmer dazu ausgetauscht?

Ja, die Schüler schreiben ab! Natürlich machen sie das. Aber wieso sollten sie auch nicht? Wer von uns hätte das denn damals nicht gemacht?

Bedeutet das, dass die bösen Schüler degenerieren? Oder bedeutet das, dass man sich überlegen muss, wie man ein System schafft, das sich nicht hacken lässt? Ich würde sagen: Zweiteres ist der Fall. Dazu muss man darüber sprechen, wie man mit ChatGPT und Co. das Lernen verbessern kann. Das geht nämlich auch. Und zwar auf eine Art und Weise, die revolutionär sein wird. »Adaptives Tutoring« wird das genannt.

Damit kriege ich es plötzlich hin, dass 30 Schülerinnen und Schüler individuell von der KI beraten werden. Und ich bin auch noch da, um zu unterstützen – und, um mit den Schülerinnen und Schülern darüber zu diskutieren, wann es eigentlich sinnvoll ist, Künstliche Intelligenz zu benutzen und wann man es nicht machen sollte.

Schule hat sehr lange wie folgt funktioniert: Vorne stand jemand, der gesagt hat, wie es ist und wie es sein soll. Und dann geht man nach Hause und macht das, was eigentlich Schule leisten sollte, nämlich lernen. Ein solches System, in dem die Instruktion vor Ort passiert und das eigentliche Lernen zu Hause, wird jetzt komplett unterlaufen. Wieso sollte auch jemand nicht intelligent genug sein, zu sagen: »Wenn es nur auf das Produkt ankommt, dann kann ich mir das auch machen lassen?« Das wurde übrigens früher auch nicht anders gemacht, nur lief es nicht über ChatGPT sondern über den Akademiker-Vater, den aber nicht jeder hat.

Kann ChatGPT nicht auch zur Chance werden zum Beispiel dafür sorgen, dass der Gap zwischen Menschen ohne und mit Akademiker-Vater ein wenig kleiner wird?

Ja klar! Chancen gibt es aber nur, wenn die KI in die Schule integriert wird. Denn wenn die Situation so bleibt, wie sie jetzt gerade ist, dann öffnet sich im schlechtesten Fall der Digital Divide noch stärker, weil man dann auch einfach das beste Programm kaufen kann. Aber auf der anderen Seite hat der Gründer der Khan Academy mal einen TED-Talk darüber gemacht, dass der größte Lernerfolg überhaupt mit 1:1-Tutoring möglich ist. Früher hatte man ja auch seinen eigenen Hauslehrer, wenn man es sich leisten konnte. Und jetzt ist es wieder leistbar! Es gibt etwa eine digitale Feedback- und Evaluationsleiste, die ist genial, weil ich als Lehrkraft dann jedem Einzelnen sagen kann, was er besser machen könnte. Dafür bräuchte ich analog eine ganze Woche – was aber wiederum ja nicht geht, weil ich ja nicht nur eine Klasse habe. Im besten Fall werden die Chancen auch für eine Revolution des Bildungssystems sorgen. Die Sache ist nur, dass wir uns im Klaren darüber sein müssen, dass diese in zwei Richtungen verlaufen kann. Entweder in eine, in der man Chat-GPT zur Täuschung nutzt oder in die andere, in der man überlegt, wie es produktiv und kreativ eingebunden werden kann.

In ihrem Buch nutzen Sie so viele Schlagwörter, die eher aus dem Bereich New Work bekannt sind – etwa VUCA und Scrum. Bedeutet das eigentlich, dass eine Schule wie ein Unternehmen geführt werden sollte?

Das kann man nicht so pauschal sagen. Im Grundsatz funktionieren viele Dinge in der Schule natürlich schon jetzt wie ein Unternehmen. Es gibt beispielsweise eine Art Belegschaft, die auch motiviert werden soll. Aber anders als in einem Unternehmen soll nicht einfach nur die Effizienz gesteigert werden, sondern auch denjenigen eine Chance gegeben werden, von denen man sonst sagen würde: »Du, nee, komm, dann lass es uns einfach sein lassen.« Aber wir möchten ja, dass möglichst alle mitkommen!

Ich glaube aber schon, dass es unternehmerische Ideen gibt, die in Schulen einen wahnsinnigen Effekt haben können. Scrum ist ein schönes Beispiel dafür. Das haben die Unternehmen ja auch nicht in erster Linie ins Leben gerufen, weil sich das Wort so toll anhört, sondern weil sie gemerkt haben, dass es sinnvoll sein kann, wenn nicht der Chef ein Produkt erst dann absegnet, wenn es fertig ist, sondern wenn es sich alle gemeinsam anschauen können. Wenn ich Scrum im Deutschunterricht nutze, komme ich nicht als Lehrer zur Tür herein und sage: »Das machen wir!«, sondern ich erläutere einen möglichen Weg. In einem Fall ging es um die Filmanalyse und dabei führte die Findungsphase schon zu Problemen und damit zu Problemlösungsprozessen. Das ist großartig! Hier haben die Schüler beispielsweise gesagt, dass wir ja mal gucken könnten, wie sich der deutsche Film zwischen den Jahren 1950 und 2000 verändert hat. Das ist natürlich eher eine Frage für eine Habilitation – aber darauf muss man auch erstmal kommen! Denn Schülerinnen und Schüler stellen ja so gut wie keine Fragen in einem System, in dem man immer bereits mit den Inhalten ankommt.

Wenn Sie drei Wünsche darüber frei hätten, wie die Schulzeit in Zukunft gestaltet sein sollte, was würden Sie sich wünschen?

Ich würde mir erstens wünschen, dass die Schüler wissen, wie man lernt und zweitens, dass sie Lernen als leidenschaftlichen und interessanten Prozess wahrgenommen haben. Drittens wünsche ich mir, dass sie die Relevanz dessen, was sie gelernt haben, verstehen und in ihrer zukünftigen Weiterentwicklung fruchtbar machen können. Ich würde mich wundern, wenn das nicht der Wirtschaft förderlich wäre. Natürlich gibt es Leute, die sagen: »Ich bin trotz der Schule erfolgreich geworden, weil ich etwas gefunden habe, in dem ich gut bin, das habe ich in der Schule nie erlebt«. Solche Aussagen sind schlimm, denn sobald die Leidenschaft für etwas geweckt ist, liegt zwischen Erfolg und Nicht-Erfolg nur Zeit und Übung. Das ist meine Grundüberzeugung, die unter anderem aus Gesprächen mit Startups und Prominenten in meinem Podcast resultiert. Jedes Mal, wenn ein Projekt funktioniert hat, standen Leute dahinter, die immer noch eine Schippe draufgelegt haben, weil sie es geil fanden, sich weiterzuentwickeln. Naja, und wie nennt man Weiterentwicklung im persönlichen und im beruflichen und im sozialen Bereich noch? Genau: Lernen!

Unser Gesprächspartner:

Bob Blume ist Lehrer, Autor und Bildungsinfluencer.

Als »Netzlehrer« begeistert er etwa rund 163.000 Follower auf Instagram – im September ist sein neues Buch »Warum noch lernen?« erschienen.

Beitragsbilder: Niko Neithardt, Benji Friant (Infokasten)

 

AS