Künstliche Intelligenz verändert unsere Arbeitswelt schneller, als wir es je für möglich gehalten hätten. Sie analysiert Daten in Sekunden, schreibt Texte, erstellt Strategien und unterstützt bei Entscheidungen. Doch je mehr wir an Maschinen delegieren, desto wichtiger wird eine Fähigkeit, die keine KI ersetzen kann: kritisches Denken. Gertrude Paur, Leadership-Coach und Expertin für 21st Century Skills, spricht im Interview darüber, welche Bedeutung kritisches Denken im Zeitalter der künstlichen Intelligenz gewinnt. Sie zeigt, warum diese Fähigkeit für den beruflichen Erfolg heute unverzichtbar ist.
Viele Menschen verlassen sich zunehmend auf KI-Tools. Was bedeutet kritisches Denken in einer Welt, in der Maschinen scheinbar für uns mitdenken?
Eine aktuelle Studie der Swiss Business School mit 666 Teilnehmern zeigt: Je häufiger Menschen KI-Tools nutzen, desto schlechter schneiden sie beim standardisierten Test für kritisches Denken ab. Die Ursache: »kognitives Offloading«, das heißt wir delegieren Denkaufgaben an Maschinen. Künstliche Intelligenz liefert Vorschläge, wertet Daten aus und präsentiert Ergebnisse. Führung beginnt dort, wo Sie nicht einfach übernehmen. Kritisches Denken heißt: Distanz schaffen, hinterfragen, entscheiden. Forscher belegen: KI-Halluzinationen sind unvermeidlich, die Modelle haben keine echte Verankerung in der Realität und können nicht zwischen wahr und falsch unterscheiden. Wer mit Fachkompetenz reflektiert, behält die Kontrolle und trifft belastbare Entscheidungen.
Wie lässt sich kritisches Denken im Alltag trainieren – gerade in einer Zeit, in der Informationen im Überfluss vorhanden sind?
STOP: Werden Sie gedacht oder denken Sie noch? Routine schlägt Reflex. Das Stop-Signal setzt eine Denkpause vor jeder Entscheidung. Drei Fragen strukturieren den Prozess:
- Worauf basiert diese Information? Fragen Sie die KI: »Auf welchen Daten basiert diese Empfehlung?« Lassen Sie sich Quellen nennen und prüfen Sie diese direkt. Vergleichen Sie: Was sagt eine zweite KI? Was sagt Ihre eigene Fachexpertise? Wenn drei Quellen widersprüchlich sind, ist die Information nicht entscheidungsreif.
- Welche Alternative liegt griffbereit? Mindestens zwei Optionen vergleichen. Nicht die erste Lösung nehmen, sondern bewusst eine Gegenhypothese entwickeln: »Was wäre, wenn das Gegenteil richtig ist?«
- Was spricht direkt gegen diese Wahl? Listen Sie mindestens drei Gegenargumente schriftlich auf. Was kann im schlimmsten Fall schiefgehen?
Schriftlich notieren und regelmäßig anwenden. So entsteht Klarheit, übliche Denkfehler verlieren ihre Wirkung und Entscheidungswege werden nachvollziehbar.
Wie kann man in Unternehmen eine Kultur fördern, in der Mitarbeiter Daten und KI-Ergebnisse nicht einfach übernehmen, sondern aktiv hinterfragen?
Die Zahlen sind alarmierend: Laut McKinsey prüfen nur 27 Prozent der Unternehmen mit generativer KI alle Ausgaben vor der Verwendung – das heißt, 73 Prozent setzen KI-Empfehlungen ohne systematische Kontrolle um. Das ist fahrlässig. Der Weg beginnt mit klaren Prozessen: Teams entwickeln Standards, wie Informationen aus KI und Dashboards geprüft und diskutiert werden. Routinen wie systematisches Hinterfragen, kurze Reflexionspausen und Checklisten kommen fest in den Arbeitsablauf. Human-in-the-Loop bedeutet, Menschen aktiv an KI-Entscheidungen zu beteiligen, ist längst kein nice to have mehr. Mitarbeitende gestalten die Abläufe von Anfang an mit, teilen eigene Erfahrungen mit KI-Fehlern und bringen Best-Practice-Beispiele ein. Klare Kommunikation nimmt Unsicherheit: KI liefert Impulse, die Kontrolle und Verantwortung liegen bei Ihnen. Verbindliche Leitlinien regeln den Umgang mit Quellen und Ergebnissen. Die Endkontrolle und die Entscheidung bleiben immer beim Menschen. Regelmäßige Feedbackrunden halten kritisches Denken und bewussten Umgang mit KI-Informationen präsent.
In welchen Situationen zeigt sich, dass kritisches Denken zum entscheidenden Erfolgsfaktor wird – insbesondere für Führungskräfte?
Kritisches Denken entscheidet, wenn widersprüchliche Datenquellen aus KI-Tools und Dashboards auf dem Tisch liegen, Strategiewechsel anstehen oder im Krisenfall schnelle Entscheidungen gefordert werden.
Beispiel: Sie erhalten von verschiedenen KI-Systemen unterschiedliche Empfehlungen zur gleichen Fragestellung. Statt impulsiv zu reagieren, vergleichen Sie Datenquellen, prüfen Annahmen und setzen ein Stopp-Signal. Fragen Sie sich: »Stelle ich Vermutungen an? Gibt es weitere Variablen? Habe ich alle Perspektiven bewertet?« So bleiben Sie als Führungskraft handlungsfähig und treffen klare Entscheidungen, auch unter Zeitdruck.
Wo sehen Sie die größten Chancen und Gefahren: Kann KI unser kritisches Denken eher stärken oder schwächen, wenn wir sie falsch einsetzen?
KI liefert unglaublich schnell immer mehr Daten und zeigt neue Perspektiven auf. Der Vorteil entsteht, wenn Sie jede KI-Auswertung gezielt hinterfragen: Quellen prüfen, Ergebnisse mit eigenen Erfahrungen abgleichen, gezielt nach Schwachstellen und Alternativen suchen.
Die Gefahr zeigt sich, wenn Teams alle KI-Vorschläge automatisiert umsetzen, Entscheidungen nicht mehr selbst prüfen und Denkfehler wie Bestätigungsfalle oder blinder Technikglaube im Alltag verstärkt werden.
Klar bleibt: KI gibt Impulse, die Verantwortung und Entscheidung liegen bei Ihnen. Ein klarer Prozess sichert die Reflexion, etwa ein kurzer Check: »Wer liefert die Info? Welche Alternativen gibt es? Was spricht dagegen?« So bleibt die Urteilskraft erhalten, auch wenn die Datenflut zunimmt.
Setzen Sie diese Fragen als festen Ablauf im Team ein und behalten Sie den letzten Entscheidungsschritt immer selbst. Das stärkt Klarheit und hält kritisches Denken lebendig.

Gertrude Paur ist Leadership-Coach und Expertin für 21st. Century Skills. Als Coach unterstützt sie Unternehmen dabei, Führung und Digitalisierung zu meistern.
Beitragsbilder: Marion Gartler










