Sehr geehrter Herr Gauck, in Ihrem neuen Buch plädieren Sie für eine „kämpferische Toleranz“. Was ist damit gemeint?
Toleranz gebietet, dass ich aushalte und dulde, was ich falsch finde und ablehne. Aber Toleranz ist nicht beschränkt auf passives Erdulden, sie schließt auch den kämpferischen Wettstreit um die richtige oder richtigere Meinung ein. Außerdem muss es in einer demokratischen Gesellschaft Grenzen der Nachsicht und Duldsamkeit geben. Wenn Toleranz und Pluralität bedroht sind, ist gegenüber Intoleranten auch Intoleranz geboten – als eine Haltung von Demokraten im Namen der Grund- und Menschenrechte.
Gibt es in Ihrer eigenen Biografie Zeiten, in denen Ihnen Toleranz unzumutbar erschien?
Natürlich, wie bei jedem Menschen immer wieder! Vor 1990 zum Beispiel gegenüber einem repressiven Staat, gegenüber dem ich in keiner Weise tolerant sein wollte. Da befand ich mich politisch und moralisch allerdings auf der Seite der „Guten“. Aber nach 1990 merkte ich, dass ich auch mit vielem Neuem und Fremden im freien Westen meine Schwierigkeiten hatte. Aus der eher abstrakten Idee Toleranz wurde nun eine nicht immer bequeme Anforderung im Alltag. Das hat mich herausgefordert. Wie weit sollte meine Toleranz reichen? Wo aber war Intoleranz angezeigt, damit Intolerante nicht einfach von Gleichgültigkeit oder falscher Nachsicht profitieren? Dieser Konflikt tauchte besonders auf, nachdem ich mit der Funktion des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen betraut worden war. Mir vorzustellen, dass ähnlich wie in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik ehemalige Nazis nun Richter, Staatsanwälte oder auch Militärs aus der DDR-Diktatur unterschiedslos und ungeprüft von der neuen Demokratie übernommen wurden, erschien mir nicht nur politisch unklug, es widersprach auch zutiefst meinem Gerechtigkeitsempfinden. Das wäre falsche Toleranz gewesen.
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