Wer das Gefühl hat, hinter seinen Möglichkeiten zurückzubleiben und seine Potenziale nicht richtig ausschöpfen zu können, ist mit sich und der Welt oft sehr unzufrieden. Allerdings bleibt diese Unzufriedenheit oft merkwürdig diffus, und häufig ist gar nicht so recht klar, wo eigentlich das Problem liegt. Ich habe schon unzählige Male die Erfahrung gemacht, dass Menschen in solchen Fällen ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass man sich wohl überlastet habe und womöglich sogar ein Burnout drohe. Das Gegenrezept scheint klar auf der Hand zu liegen: Eine Auszeit muss her, um die vermeintliche Überlastung wieder abzubauen und neue Kräfte zu sammeln. In einigen Fällen mag das zutreffen, doch häufig ist der positive Effekt nur kurzfristig und schon bald scheint sich der oder die Betreffende wieder in der vorherigen, unbefriedigenden Situation wiederzufinden. Beispiele dafür lassen sich in den unterschiedlichsten Lebensbereichen finden, im Spitzensport ebenso wie bei Musik- und Filmstars – oder eben auch bei Menschen, die ambitionierte berufliche Ziele auf ganz anderen Gebieten verfolgen. Doch was ist der Grund dafür, dass Menschen immer wieder in dieselbe Problemsituation zurückfallen, statt sich dauerhaft daraus zu befreien und erfolgreich weiterzuentwickeln?
Symptome bekämpfen statt echter Heilung
Den entscheidenden Grund sehe ich darin, dass die wahren Ursachen der Probleme nicht erkannt, ja oft sogar noch nicht einmal ergründet werden. Aus der Annahme heraus, es sei ja alles klar, werden lediglich offensichtliche Symptome bekämpft, statt die eigentliche »Krankheit« zu heilen. In der Medizin wäre ein solches Handeln fatal: Natürlich ließen sich die äußerlich sichtbaren Symptome einer Gelbsucht mit etwas Make-up zumindest teilweise zum Verschwinden bringen. Doch die ihnen zugrunde liegende Erkrankung der Leber würde bei einer solchen »Behandlung« immer weiter fortschreiten – bis hin zur Lebensgefahr. Auch ein gebrochenes Bein wird nicht heilen und wieder richtig belastbar sein, wenn es nicht fachgerecht versorgt wird, sondern stattdessen nur ein paar Tabletten gegen den Schmerz verabreicht werden. So absurd sich diese Beispiele auch anhören mögen, im übertragenen Sinne sind es genau diese Verhaltensweisen, die Menschen in eine mentale Negativspirale geraten lassen, aus der sie sich irgendwann nicht mehr befreien können. Der reflexartige Ruf nach einer Auszeit ist deshalb in den meisten Fällen keine Lösung, sondern allenfalls der Versuch, Symptome kurzfristig zu lindern und zu überdecken.
Ursachensuche braucht Mut und Konsequenz
Die Suche nach den tatsächlichen Ursachen der Probleme ist deshalb für mich der entscheidende Schlüssel zum Erfolg. Meine Erfahrung zeigt: Auch wenn die Symptome und Probleme auf den ersten Blick sehr ähnlich wirken mögen, können die dafür ausschlaggebenden Ursachen doch völlig verschieden sein. In einem Fall ist es vielleicht ein Belastungsfaktor im privaten Umfeld, womöglich gar das »Gefangensein« in einer toxischen Beziehung. In einem anderen Fall handelt es sich möglicherweise um ein Gefühl der permanenten Überforderung, weil jemand sich vorschnell auf einen beruflichen Weg festgelegt hat, der eigentlich nicht den eigenen Zielen und Potenzialen entspricht. In beiden Fällen können die vordergründigen Symptome ähnlich sein; und wahrscheinlich würden die Betreffenden sogar zunächst freudig zustimmen, böte man ihnen ein paar Tage zusätzlichen Urlaub oder auch eine längere Auszeit an. Doch was wäre damit erreicht? Nicht mehr als eine kleine Atempause bis zu dem Moment, in dem die mentalen Belastungen sich wieder zu ihrem vollen Ausmaß steigern und der fatale Kreislauf von vorn beginnt.
Verantwortung übernehmen – für sich selbst und für andere
Das Wissen um die Gefahren derartiger Verhaltensmuster ist eine wichtige Voraussetzung dafür, Verantwortung für sich selbst, aber auch für andere übernehmen zu können. Wer erst einmal die Risiken einer solchen oberflächlichen »Symptomkosmetik« erkannt hat, wird danach viel eher bereit sein, sich mit den wahren Ursachen seiner Probleme auseinanderzusetzen und sich dabei auch auf Erkenntnisse einzulassen, die bisherige Sichtweisen und Gewohnheiten infrage stellen. Und wer Verantwortung für andere trägt, beispielsweise im Management eines Unternehmens, kann mit diesem Wissen Anstöße zu einer nachhaltigen Lösung der Probleme geben, indem Mitarbeitern eben nicht einfach zu einer Auszeit geraten wird, sondern vielmehr zu einem Mentalcoaching, welches den wahren Ursachen der Probleme auf den Grund geht.
Ursachen erkennen – Initiative zurückgewinnen
Aus meiner langjährigen Erfahrung als Coach weiß ich, dass der erste Schritt oft etwas Überwindung kostet, sich dann aber oft schon nach kurzer Zeit erste Erfolge einstellen. Allein schon das Gefühl, sich nicht mehr einem diffusen, kaum konkret fassbaren Problem ausgeliefert zu fühlen, sondern die dahinterstehenden Ursachen immer genauer zu erkennen, wirkt häufig regelrecht befreiend. Denn je klarer die Ursachen erkannt werden, desto besser wird auch deutlich, wie sie sich abschwächen und schließlich vielleicht sogar komplett beseitigen lassen. Das damit verbundene Gefühl, die Initiative zurückzugewinnen und wieder aktiv zu handeln, statt passiv zu leiden, bewirkt in der Regel eine erhebliche mentale Stärkung, auf der sich weiter aufbauen lässt.
Ressourcen und Potenziale optimal nutzen – privat wie beruflich
Ich konnte bei der Entwicklung meiner Methode auf reichlich eigene Erfahrungen zurückgreifen. Das Gefühl des Scheiterns, die zunächst diffuse Unzufriedenheit und das Herausarbeiten aus dem persönlichen mentalen Tief nach der Erkenntnis der Ursachen sind mir aus eigenem Erleben vertraut. Gesundheitliche Probleme beendeten vor Jahren meine aussichtsreiche Karriere im Profisport und zwangen mich dazu, mich binnen kürzester Zeit komplett neu zu orientieren. Dass mir dies gelungen ist, verdanke ich zu einem erheblichen Teil der schonungslosen Suche nach und Analyse der Ursachen für eine von mir als zutiefst unbefriedigend empfundene Situation. Die mentale Stärke, die sich mithilfe der Ursprungsmethode gewinnen lässt, kann sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen zugutekommen. Sie schafft eine wesentliche Voraussetzung für die optimale Entfaltung individueller Stärken, sei es im Privatleben oder im beruflichen Kontext. Zugleich wirkt sie der Verschwendung von Ressourcen und Talenten entgegen, die mit dem falschen Umgang mit mentalen Problemen unweigerlich verbunden ist. Dann dienen Auszeiten wirklich nur noch der wohlverdienten Erholung, aber nicht mehr dem vermeintlichen Kurieren von Symptomen, deren Ursachen wesentlich tiefer liegen.
Der Autor:
Tamer Schmidt ist Mentor, Podcaster und Vortragsredner.
Er ist außerdem ERFOLG Magazin Top Experte für Mental Health Coaching.
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