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Volatilität: Was wir fühlen und was sie wirklich bedeutet

Ein Expertenbeitrag von Christian Karl

Wir sehen die Ausschläge am Markt, spüren aber die Folgen in uns selbst. Eine neue Perspektive auf Volatilität, die hilft, klüger und gelassener zu entscheiden.

Wir sprechen über sie, fürchten sie, reagieren auf sie – doch kaum jemand versteht sie wirklich: Volatilität. Gerade in diesen Wochen, in denen die Kryptomärkte heftige Ausschläge zeigen und Bitcoin innerhalb weniger Tage zweistellige Bewegungen vollführt, wird sie erneut zum dominierenden Gesprächsthema. Sie gilt als Inbegriff von Risiko, als Warnsignal und als Nervositätsbarometer der Märkte. Aber was misst sie tatsächlich? Und warum trifft sie uns emotional so hart?

Was Volatilität wirklich misst

Die Antwort beginnt mit einer nüchternen Tatsache: Volatilität ist zunächst nur eine mathematische Größe. Sie beschreibt, wie stark die täglichen Kursbewegungen von ihrer durchschnittlichen Entwicklung abweichen – ein Maß, das in der Statistik als Standardabweichung bekannt ist. Und sie macht keinen Unterschied, ob der Kurs steigt oder fällt. Es geht nicht um Verlust, nicht um Gefahr, nicht um das „Wohin“ einer Bewegung, sondern ausschließlich um das »Wie«.

Ein Vermögenswert kann stark steigen und dabei ebenso volatil sein wie einer, der stark fällt. Entscheidend ist allein die Größe der Schwankungen rund um den Durchschnitt.

Doch genau hier beginnt das Missverständnis. Denn wir erleben Volatilität nicht mathematisch, sondern körperlich. Wenn ein Kurs plötzlich um 10 % fällt, spüren wir keine Standardabweichung. Wir spüren Stress. Unser Gehirn reagiert auf Schwankungen wie auf eine Bedrohung: Es aktiviert alte Muster, warnt uns vor Verlusten und fordert uns zum Handeln auf. Volatilität ist damit weniger ein statistisches Maß als ein emotionales Erlebnis.

Hier liegt die eigentliche Herausforderung: Nicht die Schwankungen selbst, sondern das, was sie in uns auslösen.

Die stille Macht der Schwankung

Stellen wir uns zwei Anleger vor. Beide investieren denselben Betrag und erzielen nach zehn Jahren die gleiche Rendite. Der eine erlebt auf dem Weg dorthin kaum sichtbare Bewegungen, der andere eine Achterbahnfahrt mit heftigen Ausschlägen. Am Ende stehen beide beim gleichen Ergebnis. Doch ihre Reise war eine völlig andere.

Das zeigt: Volatilität verändert nicht unbedingt das Ergebnis, sie verändert unsere Beziehung zum Ergebnis. Sie entscheidet darüber, ob wir eine Strategie durchhalten oder unterwegs abbrechen. Ob wir diszipliniert bleiben oder im entscheidenden Moment verkaufen. In diesem Sinne ist Volatilität ein psychologischer Hebel: Sie verstärkt, was ohnehin in uns angelegt ist – Ungeduld, Gier, Angst, Hoffnung.

Innovationen sind fast immer volatil. Neue Technologien, Ideen und Märkte verlaufen selten geradlinig. Wer die frühen Kursverläufe von Apple, Amazon oder Tesla betrachtet, erkennt das Muster sofort: starke Ausschläge, scharfe Korrekturen, emotionale Übertreibungen in beide Richtungen. Nicht, weil das Geschäftsmodell fehlerhaft war, sondern weil der Markt noch nach Orientierung suchte.

Volatilität ist also kein Makel, sondern ein Begleiter der Entwicklung. Sie zeigt, dass ein System atmet, dass es um einen fairen Preis ringt, dass Menschen ihre Erwartungen laufend neu justieren. Ein Markt ohne Volatilität wäre kein Markt, sondern Stillstand.

Doch die entscheidende Frage lautet nicht, wie sich Märkte bewegen, sondern wie wir auf ihre Bewegung reagieren.

Was Volatilität mit uns macht

Damit rückt eine andere Frage in den Mittelpunkt: Nicht „Wie volatil ist der Markt?“, sondern „Wie reagiere ich auf diese Volatilität?“ Wenn Kurse plötzlich fallen, erleben wir nicht Statistik, sondern Kontrollverlust. Wir hinterfragen unsere Entscheidungen, suchen nach Erklärungen, verfolgen jede Nachricht. Volatilität zwingt uns, Position zu beziehen: Bleiben wir bei unserer Strategie oder kapitulieren wir?

In dieser Hinsicht ist Volatilität ein Stresstest für unsere Überzeugungen. Wer nur investiert hat, weil andere es getan haben, hält Schwankungen kaum aus. Wer eine Anlage wirklich verstanden hat, wird mit denselben Schwankungen anders umgehen. Die Zahlen auf dem Bildschirm ändern sich für alle gleich. Was sie in uns auslösen, könnte jedoch unterschiedlicher kaum sein.

Vom Feind zum Lehrmeister

Wer langfristig Vermögen aufbauen möchte, kommt an einem Perspektivwechsel nicht vorbei. Volatilität lässt sich nicht wegregulieren, nicht wegdiskutieren und nicht wegwünschen. Sie ist der Preis dafür, dass wir in einer offenen, dynamischen Welt leben, in der Märkte auf neue Informationen reagieren dürfen.

Die entscheidende Frage lautet daher: Betrachten wir Volatilität als Feind oder als Lehrmeister? Als Feind zwingt sie uns zu spontanen, unüberlegten Handlungen. Als Lehrmeister erinnert sie uns daran, dass es ohne Schwankungen keine Preisfindung, keine Anpassung von Erwartungen und keinen Fortschritt gibt.

Am Ende führt das zu einer einfachen, aber unbequemen Einsicht:

Nicht die Volatilität entscheidet über Erfolg oder Misserfolg, sondern unsere Reaktion darauf.

Der Autor: Christian Karl ist Trainer, Speaker und Experte für die Integration von traditionellen Finanzmärkten (TradFi) und digitalen Assets wie Bitcoin. Nach acht Jahren als Fondsmanager ist er heute SRI Advisor und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für derivative Finanzprodukte; seit Jahren liegt sein Fokus auf der Integration von Bitcoin als Portfoliobaustein und NFTs. Das Buch »Bitcoin verstehen – 101 Antworten für kritische Köpfe« ist am 30. November 2025 erschienen.

Beitragsbilder: Georg Oberweger, Dall-E