Ein Gastbeitrag von Sonja Becker
Tolle Meetings abzuhalten, das »Next big thing« auszurufen oder auf den neuesten Technikzug aufzuspringen, sind Hamsterrad-Maßnahmen, stellen aber selten die Realisierung von Visionen und Werten dar.
»Welches Ziel? Welches Ziel?« Die Nerv-Frage hört man mittlerweile vom individuellen Sporttraining bis zum vierteljährlichen Incremental-Event in der Firmen-Beletage. Da ist die Frage nach dem Ziel schon eingepreist: die Umsatz- und sonstigen Ziele müssen bis zum Quartalsende erreicht werden – um danach neue Ziele zu formulieren. Im Sport wie im Business erreicht man dementsprechend Ziele, damit sich dahinter neue Ziele auftun: Das Höher-Schneller-Weiter-Prinzip. Damit ist schon eine Dynamik eingepreist, die das »daily grind«, die Tretmühle, voraussetzt. Und deshalb bewegen sich auch Takt gebende Manager nicht als Visionäre, sondern treten fleißig mit im Hamsterrad!
Am Ziel ist man naturgemäß außer Atem.
Und schon geht’s noch höher, schneller, weiter …
Wer Visionen hat, sagte Helmut Schmidt einmal, solle zum Arzt gehen. Er meinte damit vermutlich »Erscheinungen« und liegt insofern richtig. Wer im modernen Sinne Visionen entwickeln will, tut gut daran, aus der Tretmühle einmal auszusteigen und sich von außerhalb des Tagesgeschäfts beraten zu lassen. Sonst geschieht oft das, was wohl schon Otto von Bismarck auf die Formel brachte: »Die erste Generation schafft Vermögen, die zweite verwaltet das Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte, und die vierte verkommt.«
Visionen sind im Unterschied zu Zielen sehr langfristig entwickelte Szenarien, die nicht Umsatzziele, sondern Werte zum Inhalt haben. Werte sind generationsübergreifend und formulieren, worauf es einem Unternehmen überhaupt ankommt. Wenn man so will: Was dem Produktionsbetrieb das gut gehütete Geheimrezept ist, ist dem Dienstleister, dem Tech-Unternehmen, dem Medienimperium oder dem Hotelbetrieb die Werteskala. Sie ist der Grund für den Wohlstand des Unternehmens und überträgt sich im Optimalfall auf die nachfolgenden Generationen. Ein gewisser Conrad Hilton hat das mal so formuliert und man kann nicht behaupten, dass seine Enkelin sein Geld verprasst. Im Gegenteil: Sie hat sich mit ihrer ganz persönlichen Note und dem Zeitgeist angepasst nochmal Milliarden draufgepackt. Die vierteljährlichen oder jährlichen Umsatzziele scheren Paris Hilton wahrscheinlich wenig.
Paris Hilton hatte andere Ideen als Hotels zu führen, aber die Familienwerte sind quasi inkarniert. Das ist das zweite Thema, wenn es um Visionen geht. Jedes Individuum, jeder Mensch, Manager und Unternehmer verfolgt auch seinen eigenen Lebensplan. Wenn er sich mit seinen tief in sich verborgenen Werten deckt – Bingo! Diese müssen aber nicht familiengeprägt sein.
Das Talent in anderen erkennen: Das Elton-John-Phänomen
Jede einzelne Person besitzt eine ureigene Kernintelligenz oder auch Genialität. Bei Künstlern ist es das Talent, das zum Tragen kommen sollte, da es ein Geschenk an die Menschheit bedeutet und zur eigenen inneren Zufriedenheit führt. Das klingt schön, aber in den meisten Fällen verkümmert diese Lebensquelle.
Der Spielfilm »Rocket Man« leuchtet Elton Johns Talent aus, das in seinem proletarischen Umfeld beinahe nicht zum Tragen gekommen wäre, wenn nicht seine Großmutter das Klaviergenie zu einer Lehrerin für Klassische Musik gebracht hätte. Die Lehrerin spielt Beethovens »Für Elise« an. Er soll es nachspielen. Auf die Frage, warum er nicht weiterspiele, sagt er: »Ich kenne das nicht. Aber Sie haben nur bis dahin gespielt.«
Burnout, Bore-Out & Co: Das Wasser für Tretmühlen sprudelt nicht aus Energiequellen!
Solange Führungskräfte vor lauter Hamsterrad nicht mehr aufschauen und eine Vision entwickeln, die mit ihrer persönlichen Kernintelligenz verknüpft ist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihr Unternehmen ein Unterfangen wird. Es kann ein, zwei Generationen überdauern, man kann mit Mühe oder Glück sein Schäfchen ins Trockene holen, aber meistens mit großen, oft gesundheitlichen Opfern oder dem schlechten Gefühl, ob das alles gewesen sein soll. Selbst ein Elton John hat sich auf seinem Weg verloren. Was ihn rettete, war letztendlich die Besinnung darauf, wofür er ursprünglich einmal angetreten ist.
Burnout und Bore-Out gehören längst zu Alltagsphänomenen der Arbeitswelt. Besonders augenfällig: In digital ausgerichteten Unternehmen halten sich »Mühlräder der Sinnlosigkeit« wie Zoom-Meetings, Power Point-Präsentationen und Fleiß-Inszenierungen – das große Hamsterrad in Bewegung und sowohl die Mitarbeiter als auch die Führungskraft hängen mit drin. Wäre es ein Film, es wäre der Fritz Lang-Film Metropolis.
Wenn solche Szenarien zutreffen, ist es vielleicht Zeit für eine Auszeit – nicht erst, wenn es zu spät ist! Es gilt, sich wieder einzunorden und langfristige Werte im Auge zu behalten. Ziele allein fordern neue Ziele heraus. Wenn viel Geld das Ziel ist, ist das nächste Ziel »noch mehr Geld« – sobald aber die Werte die Hauptrolle spielen und synchron mit den persönlichen inneren Aktivposten verlaufen, sprudelt die eigene Energiequelle unerschöpflich, lebt und wirkt man mit dem Gefühl ständiger Zufriedenheit und innerem Frieden. Wenn die vierte Generation unübersehbare Neugier und Interesse an vergangenen Künsten und Kulturen entwickelt, würde ich ihr übrigens nicht vom Studium der Kunstgeschichte abraten. Am besten, sie baut nebenher schon mal ein Business damit auf.
Die Autorin:
Sonja Becker ist Coachin und Autorin und hat als High-Performance-Leadership-Coach und menschlicher »Radar for Leaders« tausende von Führungskräften beraten und betreut.
Beitragsbild: Marc Vetter Photography