Wenn Jammern zur Taktik wird – über die stille Macht manipulativer Opfer

Wenn Jammern zur Taktik wird – über die stille Macht manipulativer Opfer

Ein Gastbeitrag von Patricia Staniek

Was harmlos mit einem »Ich kann da ja nichts dafür« beginnt, kann in Organisationen zum stillen Machtspiel werden. Teams kippen in Schieflage, Projekte verlieren Fokus, Arbeits-Beziehungen ersticken in Erschöpfung. Nicht jeder, der klagt, sucht Trost – manche sichern sich so Einfluss. Emotional manipulatives Jammern ist kein Ausdruck von Schwäche, sondern ein kalkulierter Umgang mit sozialer Dynamik.

Psychologisch betrachtet wirken hier mehrere Mechanismen. Der sogenannte sekundäre Krankheitsgewinn (Freud, 1923) beschreibt den Vorteil, der aus gezeigtem Leid erwächst – Schonung, Aufmerksamkeit, Sonderbehandlung. Ergänzt wird das durch erlernte Hilflosigkeit (Seligman, 1975): Wer sich als dauerhaft machtlos erlebt – oder inszeniert – vermeidet Verantwortung unter dem Deckmantel des Opferstatus. Hinzu kommt der Negativity Bias, die Tendenz unseres Gehirns, negative Reize stärker zu gewichten. Eine klagende Stimme dominiert so schnell die gesamte Kommunikation.

Das Verhalten ist dabei oft hochfunktional: Ob Moralisierer, Schattenwerferin oder emotional erpresserischer Typ – alle eint die konsequente Schuldumkehr und eine ausgeprägte Dramaturgie. Im Unternehmenskontext kapern sie Meetings, unterlaufen Deadlines oder destabilisieren Führung durch subtile Delegitimierung. Der Schaden ist messbar: Laut Gallup-Studie (2022) sinkt in betroffenen Teams die Produktivität um bis zu 20 Prozent.

Mit Distanz betrachten

Was hilft? Der erste Schritt ist kognitive Distanzierung: Nicht jeder Vorwurf ist ein Faktum. Wer sich Faktenbewusstsein bewahrt, entzieht dem Drama die emotionale Nahrung. Einfache Techniken wie Ansagen: »Du fühlst dich übergangen«, kombiniert mit Fokussierung »Lass uns über das heutige Thema sprechen«. Noch wirksamer: die Lösungsfrage (»Was wäre dein erster Schritt zur Veränderung?«) – denn wer Verantwortung ablehnt, meidet konkrete Handlungsoptionen. Hilfreich ist auch, stille Allianzen im Team zu vermeiden: Gespräche, in denen Dritte schlechtgemacht werden, sollten konsequent in Vier-Augen-Gespräche rücküberführt werden. Halten Sie sich an dokumentierbare Sachverhalte, vermeiden Sie Interpretationen und bewerten Sie Verhalten – nicht Absicht. Und vor allem: Begrenzen Sie Zeit und Aufmerksamkeit bewusst. Emotionaler Dauerbeschuss verliert an Kraft, wenn ihm kein unbegrenztes Echo folgt. Es hilft, bewusst Beobachterpositionen einzunehmen: Fragen wie »Wem nützt diese Dynamik?« oder »Was wird vermieden, wenn alle mitfühlen?« decken Manipulationsmuster oft schneller auf als Konfrontation. Wer solche Muster erkennt, bleibt handlungsfähig – ohne sich ins Drama hineinziehen zu lassen.

Strukturell braucht es klare Rollendefinitionen, dokumentierte Prozesse, Meetings mit Zeitrahmen und schriftlich fixierte Ergebnisse. Führungskräfte, die Beschwerden an konkrete Vorschläge koppeln, erleben oft, wie der Leidensdruck plötzlich schrumpft. Ohne Resonanz verliert das Muster an Attraktivität.

Kritisch wird es, wenn das manipulative Opfer auf Grenzsetzung mit Eskalation reagiert – etwa mit angedeuteter Selbstverletzung oder sozialen Drohgebärden. Hier gilt: fachliche Unterstützung hinzuziehen, Verantwortung nicht allein übernehmen. Und auch bei subtileren Formen – etwa Mobbingvorwürfen oder strategischem Rufschaden – braucht es saubere Dokumentation und im Zweifel juristische Beratung. Zugleich braucht es ehrliche Selbstreflexion: Wer sich regelmäßig in der Retterrolle wiederfindet oder heimlich vom Drama profitiert – etwa durch moralische Überlegenheit oder Beziehungsbindung –, wird selbst Teil des Systems.

Charakteristisch für manipulatives Jammern ist seine Scheinmoral. Es wirkt bedürftig, schwach, sogar zerbrechlich – ist aber ein sozialer Steuerungsmechanismus, der Verantwortung verlagert, Systeme destabilisiert und kollektive Schuld erzeugt. Wer psychologische Klarheit mit gesunder Empathie verbindet, erkennt das Spiel, ohne es mitspielen zu müssen. Denn nicht jeder, der leidet, ist Opfer – und nicht jeder, der widerspricht, Täter. Stärke beginnt dort, wo Mitgefühl Grenzen hat und Verantwortung dorthin zurückkehrt, wo sie hingehört.

Die Autorin: Patricia Staniek ist Scientific Behaviour Profiler, Kriminalanalytikerin und Akademische Expertin für das Sicherheitsmanagement.

 

 

 

 

Bilder: Depositphotos / svyatoslavlipik, Tristan Breyer