Wie realistisch ist Perfektionismus?

Wie realistisch ist Perfektionismus?

Ich will es eben perfekt haben. Ich kann es nicht ausstehen, wenn es nicht perfekt ist.

Es sind typische Aussagen von Menschen, die danach streben höchste Standards in Perfektion, in allem, was sie tun zu erreichen.

Perfektionismus ist eine Persönlichkeitseigenschaft, die sich durch den Drang auszeichnet, Fehler zu vermeiden, höchste Präzision anzustreben und oft unrealistisch hohe Erwartungen an sich selbst und oft auch an andere, zu setzen.

Nebenwirkungen von Perfektionismus sind zeitaufwändiges Handeln, Betroffene sind oft sehr selbstkritisch bis hin zur Selbstabwertung und daraus resultierend gibt es bei Perfektionisten auch oft Prokrastination.

Aber das Streben nach Perfektion hat auch seine guten Seiten. Durch Perfektionisten werden  Erfolge sichtbar und möglich, die andere nie für möglich gehalten hätten oder die vielleicht erst viele Jahre später erreicht worden wären. Durch perfektionistisches Handwerk z.B. Köche, sind Gaumenfreuden möglich, die auch das Auge faszinieren und uns zum staunen bringen.

Die sehr hohen Standards die Perfektionisten an sich selbst und andere setzen, können jedoch einen hohen Preis haben. Perfektion in möglichst allen Aspekten des Lebens zu erfüllen, kostet viel Anstrengung, Energie und Kraft. Manchmal kostet es auch Beziehungen. Wenn keine Zeit für die Familie bleibt, weil das Projekt noch nicht perfekt ist, wenn Sohnemann gemaßregelt wird, weil er nur den zweiten Platz belegt hat und Papa sich den ersten Platz vorgestellt hat, dann kostet Perfektion auch Lebensqualität und Lebensfreude. Gemeinsam über das Erreichte freuen? Unmöglich. Nicht bei einem zweiten Platz.

Was für Nicht-Perfektionisten leicht ist, einfach mal loslassen oder eine Sache als gut einstufen, ist für Perfektionisten fast unmöglich. Nicht weil sie nicht wollen. Sie können nicht. Der innere Antreiber, die innere kritische Stimme peitscht sie voran, dass es noch nicht gut genug ist.

Dadurch kann es auch sehr schwer für sie sein, Kompromisse einzugehen oder sich mit weniger als einer perfekt empfundenen Leistung zufrieden zu geben. Das ist nicht nur für die perfektionistische Person sehr anstrengend, sondern auch für ihr Umfeld. Weil es nie wirklich ein zufriedenes „Fertig“ gibt. Weil es immer noch etwas gibt, das optimiert, dass passender gemacht, dass perfekt gemacht werden kann. Nicht weil es nötig wäre, sondern weil erst dann der innere Antreiber hoffentlich Ruhe gibt. Betroffene verlieren sich in Details, die Zeit läuft davon, andere Menschen, Projekte, Verabredungen müssen warten. Auch das ist ein Merkmal perfektionistischer Menschen. Vieles braucht viel mehr Zeit als geplant.

Perfektionisten neigen dazu jedes noch so kleine Detail immer wieder zu überprüfen, um sicher zu gehen, dass es nicht den kleinsten Fehler gibt und um sich selbst das Gefühl zu geben, dass alles den (eigenen) höchsten Standards entspricht. Womit ein weiteres Merkmal perfektionistischer Menschen deutlich wird… die Angst vor Fehlern.

Unbewusst, manchen ist es auch bewusst, haben Perfektionisten Angst vor Fehlern. Das Streben nach Perfektion gibt ein klein wenig Sicherheit, dass Fehler erst dann ausgeschlossen sind, wenn es perfekt ist. Weil was perfekt ist, kann keine Fehler haben.

Wenn es keine Fehler gibt, gibt es keine Kritik.

Perfektionisten sind selbst ihre schärfsten und unerbittlichsten Kritiker.

Folglich können sie sehr frustriert oder sogar aggressiv reagieren, wenn Dinge nicht so laufen, wie sie es sich vorgestellt haben.

Perfektionisten sind im Beruf oft sehr erfolgreich, jedoch können sie ihre eigenen Erfolge meist nicht sehen. Für sie fühlt es sich selbstverständlich an, dass sie dieses astronomisch hohe Ziel erreicht haben. Etwas anderes wäre sowieso nie in Frage gekommen. Koste es, was es wolle.

Daher ist es wahrscheinlicher, dass ein Eisbär in die Wüste umzieht, als das ein Perfektionist seine Erfolge feiert.

Aufgrund der eigenen sehr hohen Standards, die sich Perfektionisten setzen und der Angst vor Fehlern, kommt es sehr häufig zur Prokrastination. Auch bekannt als Aufschieberitis.

Irgendwann kommt der Moment, da fürchten wir uns vor unseren eigenen hohen Ansprüchen.

Wir fürchten, dass wir unsere eigenen Erwartungen nicht erfüllen und das dies von anderen bemerkt wird. In dem Moment haben wir Angst, dass andere uns für inkompetent und unfähig halten, denn das ist einer der Gründe, warum wir alle Energie und Kraft investieren, perfekt zu sein.

Und dann sind sie wieder da, die Ängste aus der Vergangenheit.

Das unangenehme Gefühl aus der Kindheit, nicht gut genug zu sein.

Was führt dazu, dass Menschen so viele Anstrengungen auf sich nehmen, sich selbst so voran peitschen, so selbstverletzend kritisch im inneren Dialog mit sich sind und ihre Gesundheit und Beziehungen aufs Spiel setzen, nur um immer perfekt zu sein?

Bevor wir zur Antwort auf diese Frage kommen…es kann in Ordnung sein, perfektionistisch zu sein. Dort wo es nötig und sinnvoll ist, dort, wo es um Sicherheit und Leben geht. Das kann sich auch mal stressig und anstrengend anfühlen. Unser Körper hält das aus. Wichtig ist jedoch, dass sich Phasen der Anspannung und Entspannung in gesunder Balance halten und der Körper nach einer stressigen angespannten Phase genug Zeit zum entspannen bekommt. Diese Balance jedoch ist bei den wenigsten Perfektionisten gegeben. Sie sind in Daueranspannung.

Entspannungsphasen finden nicht mehr statt. Langfristig kann das zu gesundheitlichen Problemen führen und auch zu Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen. Daher ist es wichtig, die Hintergründe des eigenen perfektionistischen Verhaltens zu erkennen, wenn wir spüren, dass wir in einigen Lebensbereichen erschöpft und nicht glücklich sind.

Eine Ursache ist in der Kindheit zu finden.

Wenn wir geboren werden, sind wir das hilfloseste Wesen, das es gibt. Wir können uns nicht einmal allein auf die andere Seite drehen. Wir sind angewiesen auf die Unterstützung von anderen Menschen. Wir brauchen Bezugspersonen, in der Regel sind das unsere Eltern. Damit unsere Eltern sich um uns kümmern, müssen wir eine Bindung zu ihnen aufbauen. Damit unser überleben gesichert ist, hat die Natur es so gestaltet, dass das Bindungsbedürfnis, bis ca. zum zwölften Lebensjahr, neben dem Bedürfnis nach Nahrung, unser größtes und wichtigstes Bedürfnis ist.

Folglich tut ein Kind alles, um die Bindung zu den Eltern aufrecht zu erhalten. Unabhängig davon, ob die Eltern einen guten Job machen und dem Kind Liebe, Sicherheit, Geborgenheit und Zuwendung geben oder ob sie es misshandeln und vernachlässigen, in beiden Fällen tut das Kind alles dafür, dass die Bindung bestehen bleibt.

Das Kind erhält als Rückmeldung, dass die Bindung gesichert ist, von den Eltern Aufmerksamkeit, Zuwendung und Liebe. Es bekommt das Gefühl vermittelt, dass es sicher und geborgen ist und das es ein geliebter Mensch ist. Das Kind kann sich ausprobieren, die Welt entdecken, mit dem sicheren Gefühl, dass es eine Basis in Form der Eltern hat, bei denen es jederzeit einen sicheren Ort findet, wenn die eigene Welt zu unsicher oder gefährlich erscheint.

Hat das Kind diesen sicheren Ort nicht, erlebt es höchste Unsicherheit und inneren Stress. Das innere System meldet permanent Lebensgefahr und schüttet Stresshormone aus. Der Mensch kann jedoch nicht unendlich lange in solch höchsten Stressphasen leben. Deshalb entwickelt er Kompensationsstrategien, um das Gefühl der Sicherheit wiederherzustellen bzw. auf anderen Wegen herzustellen. Eine dieser Kompensationsstrategien ist es, Fehler zu vermeiden, indem höchste Perfektion angestrebt wird.

Häufig entwickelt sich diese Kompensationsstrategie, wenn das Kind für Fehler bestraft wird. Das können kleine Ungeschicktheiten sein, zum Beispiel, dass es die Tasse Milch umkippt oder den Teller versehentlich fallen lässt. Später im Leben kann das die schlechte Schulnote sein oder der zweite Platz im Wettkampf. Kinder, die dafür mit Liebesentzug, Nichtbeachtung oder Gewalt bestraft wurden, lernen ganz schnell, dass es weniger schmerzhaft ist keine Fehler zu machen.

Um keine Fehler zu machen, gibt es zwei Möglichkeiten. Wir können entweder in die Opferrolle fallen und gar nichts mehr tun. Das sind Menschen, die Angst vor Veränderungen haben und möglichst lange alles beim Alten lassen wollen. Egal, ob es die unglückliche Beziehung ist, der frustrierende Job oder die inzwischen viel zu große Wohnung. Nichts wird verändert.

Die zweite Möglichkeit ist es, alles so perfekt wie möglich zu machen, um damit Fehler zu eliminieren.

Mit beiden Möglichkeiten wird hoffnungsvoll versucht, die Zuwendung der Eltern zu bekommen, um sich geliebt, wahrgenommen und sicher zu fühlen.

Wenn wir nun in der Kindheit solch eine Kompensationsstrategie entwickelt haben, bleibt diese unser ganzes Leben lang bestehen, solange wir sie nicht erkennen und auflösen. Wie durch einen Autopiloten gesteuert, müssen wir es perfekt machen. Manchmal erkennen wir vielleicht sogar, dass Perfektion gerade völlig übertrieben und gar nicht notwendig ist, wir wollen anders handeln, aber wir können nicht. „Ich kann einfach nicht anders.“ ist ein häufiger Satz, der das widerspiegelt. Im inneren System wirken noch alte Überlebensstrategien.

Würden wir in solch einem Moment, dem inneren Drang es perfekt zu machen, nicht folgen, würde uns hinterher das schlechte Gewissen zerfressen. Wir wären mies gelaunt und in Gedanken würden wir uns fragen, warum wir so schlecht arbeiten, warum wir nicht noch einmal nachgeschaut haben, wieso wir zulassen, dass so ein Mist durchkommt. Unterbewusst hätten wir Angst, dass die anderen merken, dass wir doch nicht so gut sind, dass wir Fehler machen und dann wissen sie wahrscheinlich auch, dass wir gar nicht so kompetent sind. Gleichzeitig fühlen wir in uns den Schmerz des Nicht gut genug sein.

Also schnell weitermachen, bis es perfekt ist, dann fühle ich mich sicher und der Kopf gibt endlich Ruhe.

Ein Teufelskreis.

Wer also unter seinen hohen perfektionistischen Ansprüchen leidet, darf als erstes erkennen, dass es eine Kompensationsstrategie aus der Kindheit ist. Auch die Begründung „Ich bin eben so.“ ist hier falsch. Richtiger wäre: „Ich wurde so gemacht.“ oder „Ich musste mir das angewöhnen.“. Doch alles was wir uns angewöhnt haben, können wir uns wieder abgewöhnen.

In der eigenen Kindheit war es überlebenswichtig, möglichst perfekt zu sein, weil wir mit Fehlern vielleicht nicht überlebt hätten. Heute sind wir erwachsen. Unser Überleben hängt nicht mehr von unseren Bezugspersonen ab. Wir verdienen eigenes Geld und können selbst für unser Überleben sorgen. Die Strategien werden nicht mehr gebraucht. Im Gegenteil, in einigen Lebensbereichen bremsen sie uns aus, verhindern Lebensfreude und kosten Lebensqualität.

Ein Schritt zur Veränderung kann die abendliche Rückschau sein, mit den Fragen:

Warum habe ich in Situation X so entschieden?

Was befürchte ich, dass passiert wäre, wenn ich nicht so entschieden hätte?

Was wäre passiert, wenn ich es 20% weniger perfekt gemacht hätte? (Wenn dir 20% zuviel sind, dann beginne mit 5% oder einer anderen Zahl, mit der du einverstanden bist.)

Würde ich nun, mit diesem Wissen, die gleiche Entscheidung wieder treffen?

Es ist wichtig, hier absolut ehrlich mit sich selbst zu sein.

Mit dem zeitlichen Abstand und vielleicht auch weniger Emotionen können uns andere Lösungsideen kommen, als in der Situation. Ziel ist es, in den nächsten Situationen, dann anders zu reagieren. Auf diesem Weg Schritt für Schritt Veränderungen zuzulassen.

Es sind auch Übungen hilfreich, die das eigene Selbstwertgefühl stärken, um die Angst nicht gut genug zu sein, zu überwinden.

Langfristig ist es hilfreich, sich mit der eigenen Kindheit tiefergehend auseinander zu setzen, um die inneren Blockaden und Überlebensstrategien zu erkennen. Denn wir alle haben nicht nur eine Überlebensstrategie, sondern mehrere in verschiedenen Ausprägungen. Um diese Strategien aufzulösen müssen wir nicht alle schmerzhaften Erfahrungen noch einmal durchleben. Gute Coaches haben Methoden und Übungen, mit denen Klienten ihre inneren Muster erkennen und auflösen, ohne den Schmerz erneut zu erfahren.

Fazit:

Das Streben nach Exzellenz ist an sich nicht negativ.

Es wird jedoch problematisch und teilweise schmerzhaft, wenn Perfektionismus zu chronischem Stress, Angstzuständen oder Selbstwertproblemen führt.

Und um die Titelfrage zu beantworten, wie realistisch Perfektionismus ist? Es kommt auf die Kindheit an.

 

Die Autorin: Daniela Kreissig ist Geschäftsführerin, Unternehmerin und Mentorin. Sie selbst hat viele Seminare und Fachfortbildungen zu Psychologie, Veränderungsprozessen, Arbeit mit dem Unterbewusstsein, Entstehung von Emotionen und Gedanken und Narzissmus absolviert und unterstützt ihre Klienten bei diesen Themen.

 

Bild: Despositphotos / microgen