Führung in Krisenzeiten

Corona, Krieg und Krise – Führen in schweren Zeiten

Wenn Julia auf ihren Computerbildschirm schaut, dann fällt es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Seit Tagen findet die 37-jährige Buchhalterin kaum Schlaf. Gestern Abend hat ihre Tochter Mia gefragt, ob wir auch bald Krieg haben und flüchten müssen. Mia ist fünf, ihre große Schwester Bea ist elf. Bea erzählt, dass sie heute in der Schule gelernt hat, was Sanktionen sind und warum alles teurer wird. Und ihr Klassenkamerad Leon hat gesagt, dass es bald Atomkrieg gibt. Nach zwei Jahren Homeoffice und Kinderbetreuung ist Julia am Ende ihrer Kräfte. Ihr Hausarzt hat ihr ein Beruhigungsmittel verschrieben, weil sie ihre Angstzustände immer weniger kontrollieren kann. So wie Julia geht es auch Lutz. In seinem Lebensmittelbetrieb trägt er die Verantwortung für fast dreißig Mitarbeiter. Lutz macht sich Sorgen um die Zukunft seines Unternehmens. Steigende Preise für Energie und Rohstoffe haben seine Kalkulation völlig durcheinandergebracht. Die Kunden kaufen viel weniger als früher. Wie lange kann das noch gutgehen?

Kontrollverlust

So wie bei Julia und Lutz geht die aktuelle Entwicklung auch an uns nicht spurlos vorbei. Über zwei Jahre Corona haben uns dünnhäutig und mürbe gemacht. Das spüren wir im Alltag an den Reaktionen, ob im Supermarkt an der Kasse oder in anderen banalen Situationen. Menschen reagieren aggressiv oder mit übertriebener Angst und Vorsicht. Warum ist das so? Die größte Herausforderung in solchen Situationen ist der Kontrollverlust. Die Krise kommt von außen, bringt Unsicherheit und Gefahren; und ich weiß nicht, wie ich sie beeinflussen kann. In einer Notfallsituation im Auto reagiere ich instinktiv oder so wie ich es gelernt habe. Ich versuche, die Situation zu kontrollieren. Derzeit fehlt uns persönlich die Kontrolle. Wir haben keine Planungssicherheit, weder als Mitarbeiter noch als Unternehmer. Kunden zögern mit größeren Einkäufen oder bevorraten sich aus Angst. Worte wie »Hamsterkauf« oder »Notvorrat« werden derzeit sehr häufig bei Google eingeben. Dazu kommt, dass sich die Preisspirale dramatisch nach oben entwickelt und ein Ende nicht abzusehen ist.

Auswirkungen auf Unternehmen

Wer in Sorge ist, ist mit seinen Gedanken woanders und kann sich schwer auf eine Aufgabe konzentrieren. Die Verhaltensweisen sind von Furcht und Vorsicht geprägt. Im persönlichen Gespräch untereinander dreht sich alles um Krise und Kriegsgefahr und weniger um die Belange der Firma. Arbeitsleistung und Zuverlässigkeit können darunter leiden. Wenn Ressourcen wie Treibstoff und Produktionsmittel (z. B. Getreide) knapp werden, dann führt das zu Engpässen und Unsicherheit. Unternehmen aus der Molkereibranche verlieren derzeit einen wesentlichen Absatzmarkt und müssen um ihre Existenz fürchten. Zwei Jahre Corona haben uns psychisch zugesetzt. Wir sind teilweise am Ende unserer Kräfte, leiden unter Kontaktarmut – und jetzt kommt noch Kriegsgefahr dazu. Irgendwann zeigen uns Körper und Psyche Grenzen auf. Besonders belastend ist unsere Ohnmacht. Auch das kennen wir sehr gut. Wir selbst fühlen uns hilflos und können nichts machen.

Die Kraft der geballten Faust

Was kann ich persönlich gegen meine Angst und Unsicherheit tun? Angst ist unser persönlicher Schutzpatron. Wenn die allerdings zu übermächtig wird, dann strecken wir die Hand abwehrend in die Höhe. Machen wir die Hand doch zur Faust, zur »Five Forces Faust«. Hier sind fünf hilfreiche Tipps:

  1. Angst zugeben und realistisch einschätzen

Aus der Jugend kennen wir solche Sätze wie: »Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, »Sei doch kein Feigling!« oder »Nur Angsthasen laufen weg«. Alles Blödsinn! Wenn wir unsere Ängste zugeben, dann können wir besser mit ihnen umgehen, nach der Ursache forschen und über die wirklichen Konsequenzen nachdenken.

  1. Über Ängste sprechen

Mit anderen Menschen über Ängste sprechen, fördert Perspektiven und Lösungsmöglichkeiten. Wir fühlen uns nicht allein gelassen, sondern teilen unsere Sorgen mit anderen. Dadurch erhalten wir unseren Bezug zur Wirklichkeit und lernen verschiedene Perspektiven kennen.

  1. Stopp die Angstnachrichten

Jeder Nachschub an negativen Informationen, sei es im Radio, im Fernsehen oder in Internetvideos, katapultiert uns wieder in die Angstsituation zurück. Es bringt nichts, fünfmal am Tag dieselben beängstigenden News aus verschiedenen Kanälen zu hören. Konsumiere nur das, was du auch verarbeiten kannst

  1. Körperliche Nähe hilft

Das ist vielleicht der wichtigste Aspekt. Umarmungen mit deinem Partner, Austausch von Zärtlichkeiten, Knuddeln mit deinen Kindern, das gibt dir Geborgenheit und hält dich von der Angst fern.

  1. Werde aktiv

Sport und körperliche Betätigung setzen wichtige Botenstoffe frei. Diese helfen gegen die Angst. Aktivsein muss nicht zwingend schwitzen bedeuten. Kinderbetreuung, Nachbarschaftshilfe, Gesprächskreise zu veranstalten, eine ehrenamtliche Tätigkeit zu übernehmen oder Hilfsangebote zu organisieren und Spendensammeln sind vielfältige Möglichkeiten. Mehr Aktivität – weniger Angst!

Mitarbeiter besser durch Krisen führen

Was für den Einzelnen gilt, gilt auch für alle Mitarbeiter. Persönlicher Austausch ist wichtig. Das kann der »Krisenfrühschoppen« am Montag, der »Feierabend-Talk« am Freitag oder der »Magische Mittwoch« mit neuen Ideen für den Rest der Woche sein. Die Mitarbeiter im Homeoffice holen wir uns natürlich per Videoschalte dazu.

Jetzt ist die Zeit für aktive Zukunftsgestaltung. Wie wäre es, wenn jede Abteilung mit allen Beteiligten eine Krisen-Checkliste erstellt? Was tun, wenn Lieferungen ausfalle?. Wie reagieren wir bei Engpässen? Kein Treibstoff für unsere Fahrzeuge, kein Gas für unsere Heizung? Derartige im Team erarbeiteten Lösungen führen uns raus aus der Opferrolle und schaffen Verbundenheit.

Und wie wäre es mit einer gemeinsam organisierten Hilfsaktion? Eine große Drogeriekette hat es gerade vorgemacht. Das Echo auf Facebook ist überwältigend und hat nebenbei noch einen wertvollen Marketingeffekt.

Aufmerksamkeit schafft Achtsamkeit

Welche Rolle spielen Führungskräfte in Krisenzeiten? Der Name sagt es schon: Sie führen! Jetzt sind echte Führungsqualitäten gefragt. Und das heißt nicht, als charismatischer und unverrückbarer Fels in der Brandung zu stehen. Unserem Unternehmer Lutz wird diese Rolle sicher schwerfallen, wenn ihn eigene Existenzängste plagen. Viel wichtiger sind die Aufmerksamkeit und Achtsamkeit den Mitarbeitern gegenüber. Vorgesetzte und Unternehmer müssen die Angst bei Ihren Mitarbeitern wahrnehmen und erkennen. Die lapidare Frage »Wie geht es dir?« ist jetzt keine leere Floskel mehr, sondern Pflichtfrage. Und dann darf nachgefragt werden. »Wie geht es dir wirklich?«, »Kann ich etwas für dich tun und, wenn ja, was?« Mitarbeiter im Homeoffice freuen sich über einen Anruf am Morgen oder am Abend. Sie wollen wertgeschätzt werden und wollen wissen, wie es um das Unternehmen steht, wollen weiter ein Teil des Teams sein. Bei allem offenen Austausch über Bedenken, Sorgen und Nöte halte ich einen Aspekt für sehr wichtig: Bitte aufpassen, dass diese Treffen – egal ob virtuell oder offline – nicht zur Jammerstunde werden. Deshalb brauchen wir in jedem Meeting einen Steuermann, der das Schiff auf Kurs in Richtung Hoffnung lenkt und nicht ins Jammertal führt. Humor kann sehr dabei helfen. Und ja, in ernsten Situationen darf auch gelacht werden.

Was sich Mitarbeiter wünschen

Unternehmensführung in Krisenzeiten bedeutet auch, mutige Entscheidungen zu treffen. Mitarbeiter sind verunsichert, wenn Herausforderungen ignoriert und nicht angegangen werden. Dazu müssen wir als Führungskräfte optimistisch und dennoch realistisch in die Zukunft schauen. Nutzen Sie dabei den Ideenreichtum eines Teams. Das ist immer besser, als einsame Dekrete zu verfassen, die auf unvollständigen Informationen beruhen. Indem wir den Austausch fördern, können wir uns besser auf Lösungen fokussieren. Ängste und Bedenken dürfen natürlich geäußert werden, sollten aber nicht zur Grundlage von Entscheidungen werden. In Krisenzeiten neigen Alphatiere zu autoritärem Führungsstil. Klare Führung hat nichts mit Befehl und Gehorsam zu tun. Wenn Sie sich dazu verleiten lassen, steigt eher die Verunsicherung im Team, als das Sie bessere Ergebnisse erzielen. Viel sinnvoller ist es, Vertrauensvorschuss zu geben und Verantwortung zu übertragen.

Führen in der Krise
Führungsprinzipien in Krisenzeiten | Grafik: Udo Gast

Selbstfürsorge für Führungskräfte

In allen Gesprächen, die ich mit Verantwortlichen in der Krise geführt habe, stehen immer die eigenen Grenzen, psychische und körperliche Belastung im Fokus. Gerade jetzt tragen Sie eine enorme Verantwortung für Ihre Mitarbeitenden, müssen schwierige Entscheidungen treffen, umsetzen und verantworten. Deshalb ist Selbstführung und Selbstfürsorge so wichtig. Wie schaffen Sie es als Führungsperson, Ihre eigenen Sorgen und Ängste in den Griff zu bekommen und mit Stress umzugehen? Wenn Sie unsicher, nervös und in Angst sind, dann spüren das Ihre Mitarbeiter. Deshalb: Achten Sie auf sich und Ihre Gesundheit. Die »Five Forces«-Strategie hilft dabei. Zusätzlich gibt es weitere Kraftquellen: der Kontakt und Austausch mit Freunden und Kollegen, ausreichend Schlaf, Entspannungsübungen und natürlich gesunde Ernährung. Und wenn die Belastung zu groß wird, dann sollten Sie den Beistand von erfahrenen Coaches oder Medizinern nicht scheuen. Wie bei Notfallsituationen im Flugzeug gilt der Grundsatz: Erst selbst die Sauerstoffmaske anlegen, bevor Sie anderen helfen. Sonst ist am Ende niemandem geholfen.

 

Udo Gast

Der Autor: Udo Gast ist ausgebildeter Krankenpfleger, Dipl. Sozial-Ökonom, Heilpraktiker für Psychotherapie und als Business Coach, Trainer und Speaker aktiv. Er ist ERFOLG Magazin Top Experte für Business Coaching & Mentoring.

 

Bilder: Depositphotos / HayDmitriy, Dr. Anne Kaiser