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Die erste deutsche Nobelpreisträgerin in der Medizin – Christiane Nüsslein-Volhard und die Wissenschaft der Körperentstehung

Heute jährt sich ein Meilenstein für die deutsche Wissenschaft: Am 10. Dezember 1995 erhielt Christiane Nüsslein-Volhard den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin — als erste deutsche Frau überhaupt. Ausgezeichnet wurde sie vor 30 Jahren gemeinsam mit Edward B. Lewis und Eric Wieschaus für die Aufklärung zentraler genetischer Mechanismen, die darüber entscheiden, wie aus einer einzelnen Zelle ein vollständiger Organismus entsteht.

Es ist eine Entdeckung mit wirtschaftlicher, technischer und medizinischer Tragweite: Ohne ihre Grundlagenforschung gäbe es weder präzise Entwicklungsbiologie noch moderne Genetik in der heutigen Form, viele Biotech-Ansätze wären schlicht nicht denkbar.

Welche Gene sagen einem Lebewesen, was oben, unten, vorne oder hinten ist?

Nüsslein-Volhard hatte eine große wissenschaftliche Liebe: Drosophila melanogaster, die Taufliege. Sie nennt sie ein »wunderbares Objekt der Vererbung« — klein, genügsam, frei von Krankheitsrisiken und schnell züchtbar. Damit wurde sie zum idealen Modellorganismus für das, was Nüsslein-Volhard herausfinden wollte: Welche Gene sagen einem Lebewesen, was oben, unten, vorne oder hinten ist? Das Prinzip ist simpel. Die Konsequenz epochal.

Über korrekt angelegte und mutierte Baupläne gelang es ihr, jene Faktoren zu identifizieren, die in der Eizelle die räumliche Orientierung programmieren. 1980 gelang der wissenschaftliche Durchbruch: Vier Substanzen bestimmen in frühen Entwicklungsphasen die gesamte Körperarchitektur.

Mit diesen Erkenntnissen begann ein neues Kapitel in der Entwicklungsgenetik.

Die einzige deutsche Nobelpreisträgerin in einer naturwissenschaftlichen Disziplin

Nüsslein-Volhard wurde 1985 Direktorin am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen und blieb dort bis 2014, weil die Bedingungen ihren wissenschaftlichen Prinzipien entsprachen: Freiheit, Unabhängigkeit und seriöse Exzellenz statt Bürokratisierung oder politischer Agenda.

Bemerkenswert ist auch ihr Transfergedanke: Sie gründete eine Stiftung und förderte Forschungsfreiheit ausdrücklich für Nachwuchswissenschaftlerinnen, inklusive Betreuungsstrukturen, die wissenschaftliche Karrieren trotz Familienphasen ermöglichen. In einer Zeit, in der Wissensarbeit oft in Geschwindigkeit und kurzfristigen Outputs gemessen wird, steht Nüsslein-Volhard sinnbildlich für etwas anderes: Mut zur Grundlagenforschung. Entschlossenheit gegen Widerstände. Und das Vertrauen darauf, dass Erkenntnis die Zukunft baut.

Ihre Leistung lässt sich ökonomisch nicht beziffern, aber sie hat Biotechnologie, Genetik und Medizin fundamental verändert. Und: Sie bleibt bis heute die einzige deutsche Nobelpreisträgerin in einem naturwissenschaftlichen Fach. Ein Erfolg, der bleibt. Und der erinnert, wozu Forschergeist fähig ist.

SK

Beitragsbild: IMAGO / TT