Christian Lepsien

IT-Fachkräftegewinnung als Wachstumstreiber des deutschen Mittelstands

Unternehmen sind händeringend auf der Suche nach Fachkräften. Der Digital-Recruiting-Experte und Gründer & CEO der artevie Group, Christian Lepsien, erklärt in diesem Interview, weshalb IT-Fachkräfte darüber entscheiden, ob Unternehmen auch zukünftig erfolgreich bleiben oder nicht, und vor allem, wie diese in Zeiten des »Fachkräftemangels« mit der richtigen Strategie trotzdem erfolgreich gewonnen werden können.

Welche Auswirkungen hat die digitale Transformation auf den deutschen Mittelstand?

Die Digitalisierung kann man ohne Übertreibung als das alles entscheidende Thema oder auch dendominierenden Megatrend nennen. Die Digitalisierung nimmt ungebremst ihren Lauf und hat in den letzten Jahren der Pandemie nochmals massiv an Geschwindigkeit zugelegt. Für jedes Geschäftsmodell, egal ob online oder offline, ob Handel, Handwerk, Dienstleistung oder sonstige Geschäftsbereiche, gilt: Das heutige Geschäft ist nicht mehr dasselbe wie vor zehn Jahren. Jedes Business hat immer mehr digitale Aspekte zu berücksichtigen. IT-Fragestellungen nehmen zu. Jedes Business wird quasi zu einem IT- basierten, IT-dominierten und vor allem IT-abhängigen Unternehmen. Die Komplexität nimmt dabei stetig zu und wird nicht weniger werden. Jedes Unternehmen wird in die Notwendigkeit geraten, sich mit digitalen Fragestellungen, mit immer schneller wechselnden Systemlandschaften, Automatisierungsanforderungen, Schnittstellen (zu Kunden, Lieferanten, Partnern etc.) und IT-Prozessen auseinanderzusetzen. Unternehmen, die sich damit nicht auseinandersetzen, werden mittelfristig enorme Probleme bekommen, konkurrenzfähig zu bleiben. Langfristig werden sie höchstwahrscheinlich vom Markt verschwinden.

Das hört sich beinahe dramatisch an. Was benötigen Unternehmen, um wirklich konkurrenzfähig zu bleiben?

Es wird erst dramatisch, wenn man sich diesen Herausforderungen nicht stellt. Es gibt zwei Sorten von Unternehmen: Diejenigen, die diesen Veränderungsdruck als Chance sehen, sich weiterzuentwickeln, und diejenigen Unternehmen, die gern alles beim Alten lassen möchten und hoffen, dass Digitalisierung doch nur eine Phase war und der Druck irgendwann nachlässt – dies wird natürlich niemals der Fall sein. Ganz im Gegenteil! Die Reise geht gerade erst los.

Christian Lepsien
Digital-Recruiting-Experte und Gründer & CEO der artevie Group, Christian Lepsien. | Bildquelle: Oliver Look

Unternehmen benötigen heute und zukünftig ganz anders qualifizierte Mitarbeiter, die diesen schnellen digitalen Wandel nicht nur bewältigen, sondern sogar gestalten können. Hier reden wir über eine ganz spezifische Zielgruppe von Fachkräften (die sich in den nächsten zehn Jahren wieder verändern wird), die es zu erreichen und gewinnen gilt. Wir erleben es täglich mit Unternehmern und Geschäftsführern aus dem Mittelstand, dass diese Talente wegen veralteter Personalstrategien einfach nicht mehr erreicht und für das eigene Unternehmen gewonnen und auch gehalten werden können. In der Personalgewinnung und im Recruiting hat sich in den letzten fünf bis sieben Jahren fast alles geändert. Warum? Weil sich die Zielgruppe und deren Verhalten geändert hat. Weil sich Kommunikationskanäle der Zielgruppe komplett verändert haben. Weil insgesamt sehr viel Nachfrage nach IT-Experten in gegenwärtig treibenden Themenfeldern wie z. B. MS365, Cloud, AI etc. auf eine begrenzte Anzahl von IT-Fachkräften trifft. Dort entsteht naturgemäß hoher Wettbewerb. Und es ändern sich dadurch die Spielregeln für alle Beteiligten.

Deshalb ist es so wichtig, die Strategien in der Personalgewinnung und im Recruiting mutig und schnell zu modernisieren und an den digitalen Markt anzupassen – Dinge, die man übrigens im Vertrieb wie selbstverständlich macht. Weil man ja eine Zielgruppe und seine Verkaufsziele erreichen will.

Und in der Personalarbeit zur Gewinnung der besten Talente? Die Fähigkeit, die besten IT- und Digital-Fachkräfte »magnetisch« für das eigene Unternehmen anzuziehen und zu halten, wird in naher Zukunft zu dem Wettbewerbsfaktor schlechthin. Unternehmen tragen den Wettbewerb über das Thema »Human Capital«, über die besten Personalstrategie zur Gewinnung von digitalen Talenten aus. Davon ist unmittelbar das Kerngeschäft eines jeden Unternehmens betroffen, es geht also um die Existenz.

Wenn IT und Digitalisierung der Treiber der Veränderung im Mittelstand ist, was bedeutet das dann für die Arbeit von Personalabteilungen?

Lösungen können nur vom Problem aus entwickelt werden. Dazu muss das wahre Problem aber erstmal erkannt werden und nicht nur an Symptomen gearbeitet werden. Ein Klassiker ist: »Wir brauchen mehr Bewerbungen!« Klingt gut, aber mehr Bewerbungen bringen eben per se nicht mehr, sondern kosten nur Zeit, Geld und Reputation des Unternehmens, wenn das Unternehmen 99 Prozent der interessanten Bewerbungen in den ersten vier Wochen des Interview-Prozesses verlieren.

Und es braucht Mut. Mut zur Veränderung von Dingen, die die letzten zehn Jahre so gemacht wurden. Klar, weil sie die letzten zehn Jahre auch noch einigermaßen funktioniert haben. Wir hören fast täglich von Eigentümern oder Geschäftsführern von mittelständischen Firmen, die teilweise Branchen-Champions und starke Marken sind, dass sie sich im Bereich Personalgewinnung hilflos und ohnmächtig fühlen. Der Satz »den Vertrieb haben wir im Griff, die Personalgewinnung irgendwie immer weniger« hören wir häufig. Warum das so ist? Eine Antwort, die ich aus mehr als 500 Kundenprojekten herausfinden konnte, ist, dass das Wissen und die Kompetenz, die Personalabteilungen heutzutage im digitalen Personalmarkt wirklich brauchen, um erfolgreich zu sein, in keiner Hochschule, in keiner Fortbildung und in keinem Kurs vermittelt werden. Das benötigte Wissen erlernt man auch nicht in HR-Abteilungen, die diese digitale Transformation selbst noch nicht vollzogen haben. Will sagen: Es fehlt häufig schlicht an Know-how und spezifischer Kompetenz für die Gewinnung digitaler Talente.

Dies als Geschäftsführer zu erkennen ist immens wichtig und der Schlüssel für die weitere Transformation. Das Motto: »Lass HR mal machen« funktioniert heutzutage nicht nur nicht mehr, sondern ist, ohne die richtigen HR-Kompetenzen, brandgefährlich geworden. Häufig wird unnötig viel zu viel Geld ausgegeben, weil die Strategie im HR nicht klar und zeitgemäß ist. Exponentiell steigende Hiring-Costs bei einer immer geringeren »Hiring Rate« ist dann das Ergebnis.

Geschäftsführer müssen das Thema Gewinnung von Digital-Talenten zur Chefsache machen, genau wie es Vertrieb schon immer war, und was zum Erfolg und Wachstum des Unternehmens geführt hat!

Bilder: Oliver Look