Weil Kinder lernen, funktionieren zu müssen, entfalten sie nicht ihr volles Potenzial – mit Folgen fürs ganze Leben. Buchautorin Gunda Frey möchte diesen Fehler korrigieren und aufzeigen, wie erfolgreich ein Leben ohne mentale Limitierung aussehen kann. In unserem Interview erklärt sie, wie einfach das ist.
Sie haben als Pädagogin viel mit Kindern zusammengearbeitet und in Ihrem Buch geschrieben: »Ich will keine Kinder mehr reparieren.« Was meinen Sie damit?
Als Kinder und Jugendlichenpsychotherapeutin mit eigener Praxis habe ich Kinder mit allen Störungsbildern behandelt. Meine Aufgabe war es sozusagen, Kinder »symptomfrei« zu bekommen. Ich habe diese Arbeit geliebt. Es war mir jedes Mal eine tiefe innere Freude, wieder in strahlende Kinderaugen zu sehen. Leider wurde zum einen die Haltung von Eltern, aber auch von Lehrern und Erziehern immer schwieriger für mich. Es hieß immer öfter: »Unser Kind verhält sich außerhalb der Norm, bitte sorgen Sie dafür, dass es wieder in die Norm passt.« Dies passt nicht mit meinem Selbstverständnis als Therapeutin und nicht mit meinem Menschenbild zusammen.
Zum anderen kamen Kinder wieder zurück in Therapie, obwohl ich sie zwei oder drei Jahre zuvor »heile« entlassen hatte. Nach Momenten des Selbstzweifelns kam ich zu der Erkenntnis: »Kinder entwickeln Störungen, weil wir sie in der Entwicklung stören.« Wir alle, Eltern und auch das Bildungssystem, tun dies ungewollt und unbewusst. Wenn man jedoch einen gesunden Menschen, der sich in der Entwicklung befindet, in ein krankes System gibt, kann dieser Mensch nur krank werden. Also habe ich meine Praxis für Psychotherapie aufgegeben und stecke all meine Arbeitskraft in die Ursachenbekämpfung und nicht länger in die Symptombehebung. Ich bilde pädagogische Fachkräfte weiter, kläre auf, habe eine Onlineplattform für Eltern geschaffen und vieles mehr. Ich bin der festen Überzeugung, dass, wenn sich auf dieser Ebene etwas zum Guten ändert, viel weniger Kinder und Jugendliche psychotherapeutische Hilfe benötigen werden.
Wie macht es sich speziell im Berufsleben bemerkbar, dass man einem anerzogenen Muster folgt, das nicht der Persönlichkeit entspricht? Hindert es am Erfolg?
Dies ist eine wirklich komplexe Frage, die auch eine komplexe Antwort verdient. Unser Bildungssystem und die Art, wie wir unsere Kinder groß werden lassen, bringt diesen Kindern bei: »Du musst funktionieren.« Dies erscheint auf den ersten Blick gut und hilfreich, um erfolgreich im Arbeitsleben zu sein. Menschen, die jedoch immer funktionieren und ihre eigenen Bedürfnisse ignorieren, werden auf kurz oder lang kollabieren. Wir sehen das schon heute an steigenden Zahlen von Burnout und Depressionserkrankungen bei Erwachsenen und auch Kindern und Jugendlichen. Dieser Funktionsmodus berücksichtigt des Weiteren nicht die unterschiedlichen Fähigkeiten des Einzelnen, das heißt, die Gefahr, dass Menschen hinter ihren eigentlichen Möglichkeiten zurückbleiben, ist relativ hoch. Die zukünftige digitale Gesellschaft benötigt kreative Problemlöser. Menschen mit diesen Eigenschaften werden erfolgreich sein. Das sind jedoch relativ Wenige derzeit.
Unsere Denkmuster und Handlungsmuster, die aus unseren Erfahrungen entsendet sind, entscheiden darüber, wozu wir imstande sind. Natürlich können diese erneuert werden. Dazu ist es jedoch nötig, sich seinen hinderlichen Glaubenssätzen bewusst zu werden und diese aktiv ändern zu wollen. Viel hilfreicher wäre es doch, wenn wir unseren Kindern von Anfang an mehr förderliche als hinderliche Erfahrungen zu Gute kommen ließen.
Wie kann man sein eigenes Potenzial erkennen, wenn man in der wichtigsten Entwicklungsphase durch die Erziehung limitiert wurde?
Zum Glück müssen unsere Limitierungen aus unserer Kindheit nicht unser gesamtes Leben bestimmen. Unser Gehirn weist eine hohe Plastizität auf und lernt bis ins hohe Alter ständig Neues – vorausgesetzt, wir wollen dies und schaffen die geeigneten Rahmenbedingungen dafür. Daher wäre der erste Schritt ein Blick in die Vergangenheit. Ich kann mich nur aus Limitierungen befreien, wenn ich diese erkenne. Vielleicht habe ich genau aus diesem Grund auch mein erstes Buch »Kindern geben, was sie brauchen« mit einem hohen Anteil an Selbstreflektion geschrieben, weitere zu dem Thema sind in Arbeit. In der Erkenntnis »Das bin ich ja gar nicht« liegt der Schatz des Neuen verborgen. Es geht zum einen darum, sich neu auszuprobieren. Zum anderen geht es vor allem darum, zu seinen inneren Wünschen, Bedürfnissen und Fähigkeiten Kontakt aufzunehmen.
Die meisten Menschen wachsen in Krisenzeiten über sich hinaus und lösen ihre Limitierungen, weil sie gezwungen wurden. Das Leben stellt ihnen eine Aufgabe, die sie mit den vorhandenen alten Mustern nicht lösen können. So ist es mir auch einen großen Teil meines Weges gegangen. Als ich verstanden habe, dass so viel mehr möglich ist, habe ich mir meine Limitierungen angeschaut und mich schlicht umentschieden. Ich kann mich zu einem neuen Leben, mehr Wachstum und der Aufgabe von Limitierungen entscheiden. Unsere bewusste Entscheidung für oder gegen etwas hat sehr viel mehr Kraft, als wir denken. Veränderung findet selten innerhalb der Komfortzone statt.
Welches gesellschaftliche Szenario hätten wir, wenn eine Generation individuell gefördert aufwachsen würde?
Erst einmal möchte ich betonen, dass es nicht um eine individuelle Förderung geht in meinen Augen. Es geht vielmehr um die Anerkennung der Einzigartigkeit der Menschen und eine Etablierung von pädagogischen, aber auch wirtschaftlichen Konzepten, die das widerspiegeln. Aber genau das kann das Resultat sein, wenn wir mit einer Generation beginnen und uns bewusst entscheiden, alte Muster und auch Limitierungen loszulassen. Ich denke, Vieles, was wir gerade mit viel Aufwand in unserer Gesellschaft etablieren wollen, wäre dann normal, zum Beispiel das Leben von Diversität. In meinen Augen hätte dies große positive wirtschaftliche und auch gesamtgesellschaftliche Folgen.
Können Erwachsene limitierende Programmierungen bei sich auflösen? Wenn ja, wie?
Ja, das ist zum Glück möglich. Keiner muss so bleiben, wie er ist. In meiner Vorstellung hat jeder Mensch sein eigenes Betriebssystem. Dies wurde in den ersten Lebensjahren durch die Hauptbezugspersonen konfiguriert. Jedes Betriebssystem benötigt ein Update, damit es weiterhin zuverlässig läuft. Leider funktioniert das mit unserem menschlichen Betriebssystem nicht automatisch. Da dürfen oder müssen wir selbst aktiv werden. Da jeder Mensch einzigartig ist, gibt es da auch nicht den einen Weg, um sich aus seiner Limitierung zu befreien oder sein Update zu fahren. Letztendlich geht es als Erstes um die Erkenntnis: »Da darf sich was ändern.« Als Nächstes braucht es den Mut, die Entscheidung zu treffen: »Ich will und werde etwas ändern.« Denn normalerweise findet unser Umfeld das erst einmal nicht so witzig, wenn wir aus gewohnten Mustern ausbrechen. Inzwischen gibt es durch Podcasts, Bücher, Coachings und Weiterbildungsangebote genug Möglichkeiten, die Entscheidung in die Tat umzusetzen.
Warum ist es Erwachsenen oft nicht bewusst, dass ihre Entwicklung niemals abgeschlossen ist und dass sie damit Chancen verpassen?
Es ist ein Kreislauf. Wir alle werden in diesem System groß oder sind schon groß geworden. Unsere vorangegangenen Generationen haben ein System geschaffen, das die Bedürfnisse und die Einzigartigkeit jedes einzelnen missachtet. Wir sind alle geprägt durch das Funktionieren-Müssen. Lernen hat deshalb wenig mit Freude am Lernen oder dem Entdecken von neuen Möglichkeiten zu tun. Es braucht Aufklärung und Bewusstsein und kritisches Hinterfragen – vor allem und ganz besonders bei uns selbst. Wenn ich noch nie am Meer war, wie soll ich dann wissen, wie sich Salzwasser auf der Haut anfühlt und eine Meeresbrise im Gesicht? Wenn ich in dem bleibe, was ich schon immer kenne, fehlt mir der Blick für das, was noch möglich ist.
Damit ist die Frage eigentlich ganz einfach zu beantworten: Den meisten Erwachsenen ist es nicht bewusst, dass ihre Entwicklung niemals abgeschlossen ist, weil es ihnen niemand sagt. Heute gibt es unendlich viele Angebote zur Persönlichkeitsentwicklung und Wege heraus aus Prägung und Routine zu finden. Es gibt also immer mehr Boten, die darauf hinweisen. Aber den ersten Schritt muss jeder selbst gehen. Und noch ist es eine große Herausforderung innerhalb unserer Gesellschaft, sich ohne Angst und Scham, dafür voller Freude und Neugier, auf den Weg zu machen, um Neues auszuprobieren.
Sie möchten mit Ihrer Arbeit eine Veränderung in der Gesellschaft bewirken. Woher nehmen Sie diese Motivation?
Meine erste Motivation war eine große Wut darüber, was unseren Kindern angetan wurde, als ich begriffen habe, welche langfristigen Folgen dies für die Kinder jetzt, aber auch für ihre Zukunft bedeutet. Wut ist eine große Motivation und setzt ungeahnte Möglichkeiten und Energien frei. Inzwischen entspringt meine Motivation der Vision einer neuen Gesellschaft. Diese Vision ist in den letzten Jahren entstanden.
Mein eigenes Leben war geprägt von so vielen Limitierungen. Wenn ich sehe, was sich bei mir in den letzten Jahren entwickelt hat und was noch möglich ist, dann bin ich selbst immer wieder geflasht. Zudem habe ich schon unzählige Menschen aus ihren Limitierungen heraus begleitet. Zu sehen, was dann alles möglich ist, setzt bei mir so viel Freude und Energie frei. Vor meinem geistigen Auge sehe ich dann, wie es wäre, wenn viel mehr Menschen diesen Weg gehen würden, den Weg raus aus der eigenen Begrenzung. Dann kann ich den positiven gesellschaftlichen Wandel förmlich spüren, der sich damit automatisch einstellen würde.
MK
Bild: Torsten Faltin Fotografie
»Das verstaatlichte Kind«
von Gunda Frey
Erschienen: Juli 2022
books4success
ISBN: 9783864708114