Ob als Mitfahrer auf einem Sauber oder mit ausgestrecktem Zeigefinger auf dem Siegerpodest: Sebastian Vettel sorgte für die großen Auftritte in der Formel 1, ging als bis dahin jüngster Weltmeister in die Geschichte des beliebten Motorsports ein. Umso überraschender dann der Karrierestopp des Ausnahmesportlers zum Saisonende 2022 verkündete. Denn zwar gehörte Vettel zu seinem Karriereende nicht mehr zu den jüngsten Fahrern, jedoch bei weitem auch nicht zum alten Eisen der Formel 1. Was also war geschehen?
Eine Veränderung aus Überzeugung
Seine Ziele hätten sich verändert, gibt der Sportler auf Instagram selbst zu Protokoll. »Es gibt mein Leben auf der Strecke und mein Leben neben der Strecke«, sagt Vettel in seinem auf Instagram veröffentlichten Abschiedsvideo. Die Formel 1 sei nach wie vor seine Leidenschaft, die Energie, die es allerdings brauche, um mit dem Auto und dem Team eins zu werden, erfordere Konzentration und Anstrengung. Es sei ihm nicht mehr möglich, sich der Formel 1 so zu widmen, wie er es bisher getan habe, und dies mit seinen weiteren Rollen im Leben zu vereinbaren, erklärt er gefasst. Doch die Sätze lassen keinen Zweifel an der Härte seines Entschlusses zu. Sie zeigen deutlich, dass eine Entscheidung für einen Weg auch immer eine Entscheidung gegen einen anderen ist. Vettel hat die Wahl zugunsten seiner Frau, seinen drei Kindern und seinen persönlichen Überzeugungen getroffen, wie aus seinem Statement hervorgeht – bei dem er nicht mit Kritik spart: »Formel-1-Fahrer zu sein, bringt Dinge mit sich, die mir nicht mehr gefallen«, erklärt er. Welche Aspekte das seien, spricht er zwar nicht direkt aus, doch seine weiteren Andeutungen lassen erahnen, dass es dem passionierten Bienenschützer um die Umwelt geht. »Wir können es uns nicht leisten, zu warten«, heißt es da etwa, und: »Das Morgen gehört denen, die das Heute gestalten.«
Der Entschluss, einer herausragenden beruflichen Laufbahn den Rücken zu kehren, weil sie im Kontrast zu den individuellen Überzeugungen steht, verdient, ungeachtet der Art der Überzeugung, Beachtung, weil sie ungewöhnlich ist – wie unlängst die jüngsten Diskussionen um die »One Love«-Binde im Fußball zeigten – und den Erfolgsbegriff neu definiert. Vettels Tausch einer gefeierten Rennfahrer-Karriere gegen die Rolle des Familienvaters, der seinen Kindern die eigenen Werte weitergeben möchte, mag auf den ein oder anderen sogar irritierend wirken, zeugt jedoch ohne Frage von Risikobereitschaft, Entscheidungsfreudigkeit und Flexibilität – Eigenschaften also, die als Erfolgsfaktoren bekannt sind und die Vettel auch in seinem bisherigen Werdegang die entscheidenden Impulse geliefert haben.
Vom Kartfahrer zum Shootingstar
Sebastian Vettel kommt am 3. Juli 1987 im hessischen Heppenheim zur Welt. Als er im Teenageralter ist, hält gerade ein anderer Deutscher die Rennfahrerwelt in Atem: Michael Schumacher heimst ab Mitte der 90er-Jahre mehrere Weltmeistertitel ein; ein Idol für den jungen Vettel, dessen spätere Laufbahn viele Parallelen zu der Schumachers aufweisen wird.
Wie Schumacher gilt auch Vettels Interesse bereits im Vorschulalter der Kartbahn. Zu seinen ersten Förderern gehörte Gerhard Noack, der Kartsporthändler, der schon Vettels großes Vorbild in dessen Anfängen unterstützt hatte. »In Sebastian habe ich eben den Michael Schumacher gesehen«, wird dieser 2008 im Interview mit der »Welt« äußern. Noack ist nicht der Einzige, der Vettels Talent erkennt: Auch seine Eltern unterstützen den Youngster, fahren ihn zu Wettkämpfen – auch international. Ihr Engagement trägt Früchte: Dr. Helmut Marko holt den Jungen in sein Red-Bull-Förderprogramm; es ist sowohl der Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen Vettel und den Sportteams des österreichischen Getränkeherstellers als auch der Start einer vielversprechenden Karriere für den jungen Rennfahrer.
Und so sitzt Vettel ab dem Jahr 2003 am Steuer eines Monoposto; zunächst unter anderem beim Rennstall Mücke Motorsport, dann in der Formel-3-Euroserie und schließlich, im Jahr 2006, fährt er auch als Freitagstestfahrer in der Formel 1. Hier, in einem BMW Sauber, erzielt er seinen ersten Rekord: Als bislang jüngster Fahrer der Formel 1 gewinnt er ein Freitagstraining vor dem Großen Preis der Türkei; einen Moment, den er rückblickend als den »entscheidendsten« bezeichnet. Bereits im Jahr darauf erfolgt sein Formel-1-Debüt als Rennfahrer, das gleich wieder einen Rekord zur Folge hat: Von 2007 bis 2014 ist Vettel der jüngste Fahrer, der bei einer Formel-1-Weltmeisterschaft Punkte erzielen konnte.
Vettels Auftakt in der Formel 1
Doch die Herausforderungen lassen nicht lange auf sich warten: Ebenfalls im Jahr 2007 wird Vettel von Scuderia Toro Rosso verpflichtet, dem Schwesterteam seines späteren Rennstalls Red Bull Racing. Doch weil Vettel die Freigabe von BMW Sauber erst sehr spät erhält, muss er schließlich beim Großen Preis von Ungarn antreten, ohne das Fahrzeug je zuvor gefahren zu haben. Er landet schließlich auf dem 16. Platz. Beim Großen Preis von Japan im selben Jahr scheidet er sogar aus, nachdem er mit seinem späteren Teamkollegen Mark Webber kollidiert – der größte Fehler seiner Karriere, wie er später selbstkritisch anmerkt.
Doch trotz solcher Misserfolge behält Vettel seine Ziele im Blick und kann bereits 2008 einen weiteren Rekord vermelden: Als jüngster Fahrer in der Historie der Formel 1 darf er nach dem Qualifying für den Großen Preis von Monza von der Pole Position starten und kann das Rennen für sich entscheiden. Im Alter von 21 Jahren und 73 Tagen geht er als bis dato jüngster Grand-Prix-Sieger in die Geschichte der Formel 1 ein.
Bis 2010 dauert es noch und dann darf Vettel sich auch schon Weltmeister nennen: Nachdem er das letzte Rennen der Saison, den Großen Preis von Abu Dhabi, als Mitglied des Red-Bull-Racing-Teams für sich entscheidet, wird er zum jüngsten Sieger einer Formel-1-Weltmeisterschaft und darüber hinaus zum deutschen und europäischen Sportler des Jahres gekürt. Drei weitere Weltmeistertitel folgen, alle in den darauffolgenden Jahren. Eine Erfolgsserie, die ihm kaum einer nachmacht: Bis heute haben dies nur insgesamt vier Fahrer erreicht, einer davon ist Vettel selbst, ein anderer sein großes Vorbild, Michael Schumacher. In dieser Zeit geht die Siegesgeste von Sebastian Vettel – der sogenannte Vettel-Finger – um die Welt; er sorgt sogar für einen kleinen Skandal, da er von manchen als arrogant empfunden wird. Dabei ist das Handzeichen wohl als Symbol seiner Resilienz zu verstehen, erinnert diese doch, zumindest einer bekannten Rennfahrer-Legende nach, an einen Unfall in Vettels Anfangszeit, bei dem sich der damals 19-jährige einen Bruch des Zeigefingers zuzog.
Die Zeit nach den Weltmeistertiteln
Nach dem Erfolgsjahr 2013 kommt eine Zeit der Veränderung für Vettel, der mittlerweile zum internationalen Superstar herangereift ist. Die wohl wichtigste neuerung ist ein Rennstallwechsel zum Saisonende 2014 – Vettel fährt von nun an für Ferrari. Medienberichten zufolge kann der junge Sportler eine Ausstiegsklausel im Vertrag nutzen, doch die Trennung von Red Bull Racing erfolgt alles andere als einvernehmlich; später wird sich Vettel für sein Verhalten in diesem Fall entschuldigen.
Die fünfjährige Zeit bei Ferrari beginnt mit einer Podestplatzierung und verläuft insgesamt erfolgreich, doch die erhofften sportlichen Highlights bleiben aus. 2017 sorgt ein Foto vom Großen Preis von Malaysia für mediale Aufmerksamkeit und erhitzt die Gemüter in der Formel 1: Es zeigt Vettel, der nach einem Unfall mit seinem Ferrari auf dem Gepäckträger des Fahrzeugs von Patrick Wehrlein mitfährt. Für sein Verhalten, das sogar mit einer Strafe hätte geahndet werden können, ist ihm das Medieninteresse gewiss, er erntet aber auch Kritik. »Er fährt einfach brillant«, äußert sich hierzu etwa der TV-Experte Martin Brundle. »Doch mit seinem Benehmen und seiner Haltung macht er sich das Leben unnötig schwer.«
Keine einmalige Situation, führte bereits im selben Jahr eine andere, als hitzköpfig interpretierte Reaktion Vettels zu Kontroversen, die sogar sportliche Folgen für das Ausnahmetalent nach sich zogen: Nachdem Lewis Hamilton Vettel in Baku ausgebremst hatte, rammte Vettel das Fahrzeug seines Kontrahenten. Berichterstatter und Schiedsrichter interpretierten diese Aktion als Revanche – die Folge war eine zehnsekündige Boxenstopp-Strafe für Vettel. Trotz dieses Rückschlags beschließt Vettel die Saison insgesamt erfolgreich: Er landet auf dem zweiten Platz– direkt hinter seinem Kontrahenten Hamilton.
Danach folgt eine Durststrecke für den deutschen Sportler. Die sportlichen Leistungen wollen sich bei Vettel nicht mehr so recht einstellen; zu Beginn des Jahres 2020 wird bekannt, dass Vettel Ferrari verlässt. »Wir hatten viele unglaubliche Jahre, ich glaube aber, dass es gegen Ende sehr schwierig für mich war, weil ich ihm verkünden musste, dass wir den Vertrag mit ihm nicht verlängern«, erklärte Ferrari-Teamchef Binotto im Rückblick gegenüber dem »Motorsport Magazin«.
Bis zu seinem Rückzug aus der Formel 1 fährt Vettel neben Lance Stroll für Aston Martin. Inwiefern die ausbleibenden sportlichen Erfolge seine Entscheidung mitbeeinflusst haben, weiß nur er selbst; in seinem Video sind sie ihm allerdings nur eine Randnotiz wert: Mit zunehmendem Alter werde man ohnehin nur langsamer, sagt er dort mit einem Augenzwinkern. Dass dem Sportler allerdings auch weiterhin Türen offen gestanden hätten, glaubt der ehemalige Rennfahrer Christian Danner: »Er hatte keinerlei Zwang, dass ihn wer loswerden wollte oder dass er irgendwie gemerkt hat, dass es nicht mehr geht«, sagte er gegenüber dem »Motorsport Magazin«.
Von der Zielgeraden direkt auf die nächste Startposition
Mit Spalier und Donuts endet am 20. November 2022 die Rennfahrer-Karriere des Sebastian Vettel. Trotz seiner harten Worte gegen die Formel 1 im Juli gestaltet sich der Abschluss doch als versöhnlich. Es scheint, als habe Vettel vor seinem Karriereende allen Zwist beilegen wollen. »Zwischen uns ist alles okay«, erklärt etwa Vettels ehemaliger Teamkollege Webber und auch Hamilton meint, er habe Vettel seinen Ausraster in Baku verziehen. Zudem sind es gerade der unerschütterliche Fokus auf seine Ziele und die Hingabe zum Sport, die Vettel neben einem offensichtlichen Talent zusätzlich auszeichnen und die ihm seine Wegbegleiter hoch anrechnen. »Jedes Mal, als er im Auto saß, war er voll da. Er war bei über 100 Prozent«, zitiert das »Motorsport Magazin« beispielsweise seinen letzten Teamchef bei Aston Martin, Mike Krack. Diesen unerschütterlichen Fokus hsat Vettel bis zuletzt gezeigt; ärgerte sich noch nach seiner letzten Fahrt darüber, dass nicht noch ein paar Punkte mehr drin gewesen waren.
»Ich bin besessen von Perfektion (…), ich bin stur und ungeduldig (…), ich kann sehr nervig sein« – so beschreibt sich Vettel selbst. Aufgrund dieser Wesenszüge kam der als »Baby-Schumi« bekannte Star während seiner Laufbahn nicht immer gut an, polarisierte mitunter; manchmal schien es sogar, als stünde er sich selbst im Wege. Und doch ist es, neben seinen herausragenden sportlichen Erfolgen, vor allem seine Haltung, die bei seinen Teamkollegen und Konkurrenten gleichermaßen große Wertschätzung erfährt.
Ob der Ex-Rennfahrer in seinem nächsten Lebensabschnitt ähnlich punkten kann wie im Sport, bleibt ungewiss – und ist auch Nebensache, denn Vettel hat einmal mehr gezeigt, dass Erfolg nicht allein in Rekorden und Trophäen gemessen werden kann. Um langfristig in Erinnerung zu bleiben, ist das richtige Mindset mindestens ebenso entscheidend. Mit seiner Energie, seiner Leidenschaft, seinem Mut und seiner Authentizität hat sich Vettel als Rennfahrer selbst ein Denkmal gesetzt. Nun richtet er seinen Fokus auf neue Ziele: »Mein bestes Rennen? Liegt noch vor mir (…). Ich freue mich auf das Unbekannte und neue Herausforderungen«.
AS
Aus: Erfolg Magazin 01/2023
Beitragsbild: IMAGO / PanoramiC