Schnell aufeinander folgende Großkrisen machen den Menschen heute zu schaffen. Grund dafür sind nicht nur spürbare Einschränkungen etwa bei Reisen oder beim Konsum. Es handelt sich um eine tiefe Verunsicherung angesichts der Brüche bei scheinbar selbstverständlichen Errungenschaften wie Frieden oder einer ausreichenden Energieversorgung. Die Frage nach der persönlichen Stabilität ist existentiell. Welche Anhaltspunkte also gibt es, um in stürmischen Zeiten stabil leben zu können?
Das Leben ist schnell, der Mensch aber ist langsam. Mit diesem Satz bringt es der deutsche Philosoph Odo Marquard auf den Punkt. Der Mensch erfindet sich nicht jeden Tag neu, sondern braucht viel Gleichbleibendes. In Zeiten starker Umbrüche verstärkt sich die Sehnsucht nach Stabilität. Hier werden vier Anhaltspunkte gegeben, wie Wandel und Beständigkeit zusammenpassen können.
Ein anderer Blick auf Krisen
Für die alten Griechen gehen Kairos, der rechte Augenblick und Krisis, was mit Wendepunkt übersetzt werden kann, oft Hand in Hand. In dieser Hinsicht stellt sich vieles anders dar. Zum Beispiel bei der Erziehungs- oder Führungsarbeit. Erst wenn etwas schiefgegangen ist, ist es ansprechbar und bearbeitbar. Ein anderer Blick auf Krisen hilft, nicht in Pessimismus zu verfallen, sondern darin den Kairos, die günstige Gelegenheit, zu erkennen. Die Energiekrise erhöht die Offenheit für alternative Lösungen kolossal. Offenbar bedarf es der Krise, um eine Umkehr zu erzwingen.
Das Gleichbleibende im Wandel
Auch wenn sich unser Leben stark verändert, bleibt doch mehr erhalten, als man im Zustand der Sorge und der Verlustangst wahrnimmt. Zum Beispiel die Routinen im Alltag: Der Berufsalltag gibt dem Tag eine Struktur mit sich wiederholenden Tätigkeiten, Standardabläufen, formalen und informellen Gesprächen. Privat gibt es hier das regelmäßige Telefonat mit Familienmitgliedern, dort die Wandergruppe einmal im Monat, den Feierabendplausch mit dem Lebenspartner. Das alles bleibt vollkommen unberührt von weltbewegenden Ereignissen.
Für den Soziologen Hartmut Rosa sind Resonanzerlebnisse die Essenz des Lebens. Bei der Fahrt mit dem Fahrrad von der Arbeit nachhause fällt die Last des Tages ab, man spürt die Fahrtluft im Gesicht, genießt die Bewegung, schmunzelt beim Blick auf eine Gruppe mit spielenden Kindern. Für einen Moment ist man in Übereinstimmung mit seiner Umwelt. Resonanzerlebnisse holt man sich über die kleinen Fluchten aus den Anforderungen des Alltags. Beim Musikhören, bei einem Glas Wein, bei einer Lektüre, beim Dösen. Diese kleinen Freuden bedürfen keiner besonderen Voraussetzungen und sind deshalb maximal stabil.
Dynamische Stabilität
Stabilität ist kein statischer Zustand, sondern äußerst dynamisch. In der benediktinischen Klosterregel zählt die Stabilität zu einem zentralen Wert. Der Kerngedanke der stabilitas loci, des lebenslangen Bleibens an einem Ort, richtet sich darauf, von den Themen und Problemen des Lebens nicht davonzulaufen, sondern sich der Auseinandersetzung zu stellen. Nicht die Abgeschiedenheit nährt die stabilitas, sondern Aufgeschlossenheit und Offenheit. Diese Dynamik kann jeder auf sein eigenes Leben übertragen. Berufliche Anforderungen, gesellschaftliche Ereignisse, existentielle Bedrohungen – dynamische Stabilität bedeutet, der Unsicherheit und der Angst keine Macht zu geben. Dann ist zu erleben, dass man nicht so schnell untergeht, sondern bei der Überwindung der Unsicherheit Kräfte mobilisiert.
Sich einlassen
Wenn ich weniger oder langsamer Autofahren soll, Strom und Gas einsparen soll, meine Amerikareise umplanen muss – sind das Gründe, um unglücklich zu sein? Doch nur, wenn ich mich an diese Annehmlichkeiten klammere und mein Lebensglück davon abhängig mache. Im Buddhismus gilt das Festhalten an Dingen und Gedanken als die größte Quelle des Unglücks. Der Psychotherapeut Alfried Längle hat drei Lebensstrategien für ein gesundes und sinnvolles Leben erkannt. Erstens die Fähigkeit, das Schöne zu genießen. Zweitens das aktive Gestalten dessen, was man selbst bewegen kann. Drittens das Akzeptieren dessen, was sich dem eigenen Zugriff entzieht. Längle geht hier noch einen Schritt weiter. Er spricht davon, sich verändern zu lassen an einer Stelle, an der es ganz anders kommt als man es wollte.
Letzteres scheint schwierig. Irgendetwas wehrt sich gegen den Gedanken, sich verändern zu lassen. Aber warum eigentlich nicht? Bin ich perfekt? Sollen meine Anschauungen unveränderlich sein? Sich vom Leben nicht nur belehren, sondern sich förmlich mitreißen zu lassen, hat etwas sehr Lebendiges. Dies wäre ein sehr kluger Umgang mit dem Wandel, weil er immer Bestand hat.
Der Autor: Der studierte Philosoph Konrad Stadler berät seit über 25 Jahren internationale Konzerne und mittelständische Unternehmen bei Veränderungsprozessen. Mit seiner differenzierten Sichtweise liefert er Antworten auf die drängenden Fragen, wie wir mit gegenwärtiger und zukünftiger Transformation besser umgehen können. Er ist Vortragsredner und Trainer zu den Themen Führung und Kulturwandel.
»Veränderungsbewusstsein –
Eine Anleitung zum Umgang mit dem Wandel«
von Konrad Stadler
232 Seiten
Erschienen: 2021
Business Village
ISBN: 978-3-86980-596-2
Beitragsbild: IMAGO / Xinhua, Autorenbild: Tim Sommer, Cover: Business Village