Gegen die Spirale der Angst
Mein „Wer wird Millionär?“-Abenteuer begann in Unterhosen und endete auch mit Günther Jauch in Unterhosen.
Buchauszug aus „Das Geheimnis der Psyche“ von Leon Windscheid, Ariston Verlag
Der Kerngedanke bei der Spirale der Angst ist, dass sich unsere Angstreaktion aufschaukeln kann. Genau das hatte ich bei meinem Referat in der Uni erlebt. Ein kleines Anzeichen von Angst bringt uns in Habachtstellung. Jetzt sind wir besonders sensibel für alles, was eine Gefahr sein könnte: Ich denke, dass ich schwitze. Das ist peinlich. Alle sehen das. Jetzt steigt mein Angstniveau. Sofort wird mir noch wärmer. Jetzt sehe ich, dass ich unter den Achseln schon zwei Schweißpfannekuchen auf dem Hemd habe. Die Mädels in Reihe drei fangen an zu kichern, oder? Für mein Hirn sind das alles Gefahren. Was tun bei Gefahr? Noch mehr Angst! Ich fange an, mich zu verhaspeln. Mein Vortrag wird in einem Fiasko enden! Es kommt zu einem Aufschaukeln zwischen Reizen aus der Umgebung, die man als Gefahr interpretiert, und unserem Hirn, das uns mit Angst auf die Gefahren vorbereiten möchte – und alles (anscheinend) nur noch schlimmer macht. Sobald man in den Strudel der Spirale gezogen wird, geht es immer weiter nach oben, wie in einem Tornado. Wenn man einem Spinnenphobiker ein Krabbeltier auf den Kopf setzt, schießt die Angstkurve Richtung Himmel. Gefühlt wird diese Kurve nach oben niemals abflachen und die Angst immer schlimmer.
Nachdem unsere Dozentin die Idee hinter der Spirale der Angst erklärt hatte, zückte sie wieder den dicken Edding. Energisch zog sie einen waagerechten Strich durch die gemalte Spirale. Was Psychotherapeuten ihren Angstpatienten klarmachen, ist, dass die Spirale der Angst ein natürliches Ende hat. Irgendwann ist Schluss. Angst flacht ab. Man gewöhnt sich an alles. So unangenehm der Weg dahin auch ist und so unmöglich es einem am Anfang erscheinen mag. In der Therapie lernen Angstpatienten, ein »Angstimmunsystem« gegen die falschen Gefahrensignale aufzubauen. Und das geht am besten, indem sie mit der vermeintlichen Gefahrenquelle konfrontiert werden.
Das nennen wir Psychologen Exposition. Vereinfacht gesagt, wird einem der Auslöser der Angst so lange vorgehalten, bis die Angst von allein abnimmt. Dabei ist klar, dass ein Profi jemandem mit Spinnenphobie niemals unvermittelt eine Vogelspinne auf den Kopf setzen würde. Im Gegenteil. Die Exposition beginnt ganz unten. Genau wie die Spirale der Angst. Vielleicht mit dem Foto einer Biene. Die ist immerhin schon ein Insekt. Schrittchenweise geht es dann weiter bin zum Spinnenfoto. Dann eine ganz kleine Spinne im Käfig und irgendwann vielleicht die Vogelspinne auf dem Kopf. Bei jedem einzelnen Schritt lernt der Patient seine Angst ein wenig besser kennen und beginnt, mit ihr umzugehen. Dadurch nimmt die Angst ab.
Für mich war die gemalte Spirale auf dem Flipchart ein Psycho-Schlüsselmoment. Und zwar aus drei Gründen. Erstens habe ich hier zum ersten Mal richtig verstanden, warum Psychologie den Leuten helfen kann. Zweitens wurde mir klar, dass es vollkommen egal ist, ob man tatsächlich an einer psychischen Störung leidet oder nicht. Die Grundideen vieler psychotherapeutischer Ansätze kann man wunderbar auch dann auf sich selbst anwenden, wenn man seine Psyche in einem bestimmten Bereich besser in den Griff bekommen möchte. Und drittens, weil mir erstens und zweitens zu einer Million Euro verholfen haben.
Nachdem ich nämlich damals im Seminar von der Spirale der Angst gehört hatte, setzte sich ein Gedanke in meinem Kopf fest: Man kann seine Ängste überwinden, wenn man nur lange genug trainiert. Sie können sich vorstellen, dass eine Kandidatur bei Wer wird Millionär? auch mit extremer Aufregung zu tun hat. Bevor ich mich bei Günther Jauch auf den Stuhl setzen würde, so hatte ich es mir fest vorgenommen, würde ich mich auf diese Aufregung vorbereiten. Etwas Adrenalin ist gar nicht schlecht für unser Gehirn. Aber was meinen Sie, warum Kandidaten oft schon bei Fragen unter 500 Euro ihre Joker zücken müssen oder im schlimmsten Fall rausfliegen? Da sitzt man dann zu Hause auf der Couch und denkt: »Mensch, ist der doof!« Aber mit doof hat das (zumindest meistens) gar nichts zu tun. Der wahre Grund dafür, dass jemand auf dem Schlauch steht, ist Aufregung, Verunsicherung oder tatsächlich blanke Angst. Dafür kann Herr Jauch gar nichts. Es ist die besondere Umgebung im Studio und die Situation vor den Kameras. Um mich also entsprechend zu wappnen, bereitete ich mich schon im Vorfeld auf diese Angst vor. Und zwar, gemäß dem Ansatz der Angsttherapie, durch Exposition. Zwar hatte ich keinen Schlüssel zu einem Fernsehstudio und auch keine Kameras oder Scheinwerfer zu Hause.Aber ich hatte einen Stuhl. Einen Schreibtischstuhl mit Armlehnen, so ähnlich wie der bei Wer wird Millionär?. Es war aber noch mehr erforderlich, um die Aufregung auszulösen, mit der ich im Studio fest rechnete.
Und so setzte ich mich vor die Mitbewohner aus der WG meines Bruders auf den Stuhl – in Unterhose. Die Jungs löcherten mich dann mit typischen Wer wird Millionär?-Fragen. Sie können sich vorstellen, dass diese Situation unangenehm und irgendwie peinlich war. Genau das war Ziel der Freikörperübung.
Natürlich gehören zum Millionengewinn Fragen, die zu den eigenen Wissensstärken passen, ein wohlgesonnener Günther Jauch und nicht zuletzt eine ordentliche Portion Glück. Bekommen Sie das alles nicht, könnten Sie den ganzen Tag in Unterhose durch die Stadt laufen, um Ihre Nervosität abzubauen. Es würde nicht helfen. Bei mir kam alles zusammen. Und ich bin mir sicher, dass mir der »Unterhosentrick«, wie ihn die BILD-Zeitung nachher nannte, sehr geholfen hat. Wenn Sie also demnächst bei Günther Jauch sein werden, probieren Sie die Sache mit der Unterhose einfach vorher aus. Der Trick mit der Exposition funktioniert aber nicht nur zur Vorbereitung auf Quizshows. Wenn man eine Rede oder einen Vortrag halten muss und schon vorher Angst hat, rot anzulaufen und vor lauter Aufregung keinen geraden Satz herauszubekommen, sollte man einen Strich durch die Spirale der Angst ziehen, indem man seine Ängste kennenlernt und trainiert, mit ihnen umzugehen. Sie müssen nicht gleich in Unterhose vor anderen üben. Fangen Sie mit Ihrem Spiegelbild an und steigern Sie sich dann langsam. Egal, wie gut das Training läuft, Sie werden sich verbessern.
So verbinde ich meine Million besonders eng mit Psychologie und zwei Unterhosen. Die zweite Unterhose bekam ich nach der Sendung zu sehen. In der Maske hatte ich am Nachmittag eine lange Stange mit unzähligen Jauch-Anzügen an Bügeln gesehen. Die würden zum Großteil nur ein einziges Mal in der Sendung getragen, erklärte mir die freundliche Garderobendame auf Nachfrage. Das fand ich doof. Verschwendung ist nicht mein Ding. Kurzerhand fragte ich den Quizmaster, nach dem Feuerwerk zur gewonnenen Million, ob er mir seinen Anzug nicht schenken wolle, statt ihn wegzuhängen. Er sagte zu.
Gegen alle Regeln der Wer wird Millionär?-Studios in Köln durfte ich dann mit in Günther Jauchs Wer wird Millionär?-Büro. Ein bescheidener Raum mit einem eher popeligen Schreibtisch, Kleiderständer, Schrank und Raufasertapete. Überhaupt nicht besonders. Da zog er sich dann aus, als wäre es das Normalste der Welt, während er mir Hinweise gab, was mich nach dem Millionengewinn alles erwarten würde, und schenkte mir Jackett, Hemd, Krawatte, Gürtel und Hose. Seine Unterhose behielt er an.
Der Buchauszug aus „Das Geheimnis der Psyche“ von Leon Windscheid
erschien im ERFOLG Magazin vom Februar 2017.
Bild: Stefan Gregorowius